Essen. . Sind wir nur die Kopien unserer Eltern? Oder können wir selbst Regie in unserem Leben führen? Neue Antworten aus der Forschung.

„Du benimmst dich genauso bescheuert wie deine Mutter!“ „Du bist genauso ungerecht wie dein Vater!“ Wenn im Streit die Argumente ausgehen, werden gern derart pauschale Vorwürfe bemüht. Und ob sie nun begründet sind oder nicht, ihre Trefferquote ist hoch. Der auf diese Weise Getadelte fühlt sich mit Sicherheit gekränkt. Gar nicht mal, weil die eigenen Eltern angegriffen werden, eher, weil er sich als blasse Kopie wahrgenommen sieht. Ist er denn etwa kein Individuum, jemand Besonderes, Unvergleichliches?

Ahmt ein Kleinkind Vater oder Mutter nach, ihre Gesten, ihr Mienenspiel, ihre Ausdrucksweise, findet jeder das niedlich und herzerwärmend. Bei Erwachsenen jedoch kippt das Niedliche oft ins Nervige. Zumindest aus Sicht der anderen.

Wie weit verbreitet solche Gemeinsamkeiten, im Guten wie im Schlechten, überhaupt sind, zeigt eine kleine Recherche unter Bekannten und Verwandten. Ein Freund ist beliebt-berüchtigt für sein unverkennbares Lachen: Es bricht aus dem Nichts wie eine Explosion, laut und ansteckend, aber: keinesfalls einzigartig. Sein Vater klingt absolut identisch.

Der Ehrgeiz, in jeder Diskussion ein Einfallstor für einen Scherz zu suchen und ihn punktgenau abzuschießen: vom Vater. Sich mit pragmatischen Lösungsvorschlägen analytisch auf die Probleme anderer zu stürzen: von der Mutter. Der Musikgeschmack: vom Vater. Die Leidenschaft fürs Kochen: von der Mutter.

Die schlechten Zähne vom Vater

Alle Befragten können von übereinstimmenden Eigenschaften, Fähigkeiten, Vorlieben berichten. Gleiches gilt für Äußerlichkeiten: feingliedrige Finger vom Vater, schmaler Mund von der Mutter, schlechte Zähne vom Vater, …

Was wir als unsere persönlichen Erkennungsmerkmale bezeichnen könnten, als etwas, das uns unverwechselbar macht, hat es so in der Familie oft schon gegeben. Da liegt die Frage nahe, ob wir überhaupt mehr sind als die x-te modifizierte Kopie, wie schon unsere Eltern Kopien ihrer Großeltern und diese wiederum die Kopien der Urgroßeltern waren. Sind wir ein billiges Remake – die „Urgroßeltern 4.0“? Und wenn ja: Woran liegt das eigentlich? Und können wir in diesem Film wenigstens ab und zu Regie führen?

Warum und in welchem Ausmaß ein Mensch seinen Vorfahren ähnelt, beschäftigt die Wissenschaft seit langem: Ist er das Ergebnis seines genetischen Bauplanes oder doch eher das Produkt elterlicher Erziehungsbemühungen und anderer äußerlicher Einflüsse? Also eine genetische Kopie oder eine herangezogene? Veranlagung oder Umwelt? Beide Seiten hatten starke Argumente. Doch die Umwelt-Hypothese schien widerlegt, als in den 1990er Jahren das „Human Genome Project“ (HGP) die ersten Erfolgsmeldungen lieferte. Sein Ziel war es, sämtliche genetischen Informationen des menschlichen Organismus zu vermessen und zu kartieren. Ein spektakuläres Vorhaben, das in der Folge spektakuläre Entdeckungen verkündete. „Eine verwirrte Öffentlichkeit erfuhr von Genen für Homosexualität, für Gewalttätigkeit, Alkoholismus und Depression“, schreibt der Wissenschaftspublizist Bernhard Kegel in seinem Buch „Epigenetik. Wie unsere Erfahrungen vererbt werden“.

Die fleischgewordene DNA

Auf dem Höhepunkt dieser Begeisterungswelle behauptete der Biologe Jack Cohen vollmundig, der Mensch sei nicht mehr als seine „fleischgewordene DNA“.

Doch die Genforscher hatten es sich offenbar zu einfach gemacht: Je weiter die Entschlüsselung voranschritt, desto mehr musste relativiert werden. Zunächst wurde die Zahl der menschlichen Gene von ursprünglich geschätzten 100 000 bis 140 000 erst auf 26 000, dann auf 21 000 korrigiert. Nach neuesten Erkenntnissen, so schreibt der studierte Chemiker und Biologe Kegel, seien es sogar unter 20 000. Auch die Komplexität des Systems hatte man vollkommen unterschätzt. „Es ist überdeutlich geworden, dass es mit der beliebten Aufzählung abstruser ,Gene für...’ nicht getan ist.“

Um zu verstehen, wie Vererbung funktioniert, hilft ein Besuch bei Professor Bernhard Horsthemke, dem Leiter des Instituts für Humangenetik am Uniklinikum Essen. Es gebe mehrere „Vererbungssysteme“, sagt der Genetiker. Erstens: die klassische genetische Vererbung. „Das bedeutet: Eine Hälfte des Erbmaterials haben wir von der Mutter, die andere vom Vater.“

Die Gene befinden sich in allen menschlichen Zellen und werden bei Zellteilungen exakt kopiert. Dabei existiert jedes Gen in zweifacher Kopie, einmal vom Vater, einmal von der Mutter. Im Rahmen der Entwicklung werden je nach Bedarf bestimmte Gene stillgelegt, andere bleiben aktiv, so dass eine Leberzelle andere Eigenschaften und Fähigkeiten ausbilden kann als eine Nervenzelle. „Die Leberzelle muss Stoffe abbauen, aber keine Neurotransmitter herstellen, die Nervenzelle schon“, sagt Horsthemke. Lediglich ein bestimmter „Kernsatz“ an Genen sei in allen Zellen aktiv.

Ist Schüchternheit vererbbar

Über die klassische genetische Vererbung wird zum Beispiel Haar- oder Augenfarbe weitergegeben, ein Merkmal wie abstehende Ohren, bestimmte Erkrankungen, aber auch Rahmenbedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung. Das bedeutet nicht, dass Charakterzüge wie „Schüchternheit“ oder „Risikobereitschaft“ vererbt werden, sondern nur die Voraussetzungen dafür. Auch Intelligenz ist nicht ausschließlich erblich: Forscher gehen zwar davon aus, dass sie zu etwa 80 Prozent ein genetisches Geschenk der Eltern sein könnte, doch die Zahlen schwanken stark, und auch ein Kind, das wenig Voraussetzungen in die Wiege gelegt bekommt, kann über seine bloße Gen-Ausstattung hinauswachsen. Doch dazu später mehr.

Als zweites „Vererbungssystem“ nennt Bernhard Horsthemke die Umwelt: Leben Vater und Mutter in einer durchschnittlichen Wohnsiedlung oder in einem Industriegebiet, in der Wüste oder inmitten von saftigem Grün? Überspitzt gefragt: Ist die Lebenswelt der Eltern eine gesunde oder eine krankmachende?

An dritter Stelle steht die kulturelle oder soziale Vererbung. Dazu gehören zum Beispiel Muttersprache und mimische Grundlagen. Die Eltern lehren uns, wir imitieren. Gerade bei der Sprache hätten wir ja auch kaum eine andere Wahl.

Das junge Forschungsfeld Epigenetik

Als vierte Möglichkeit der Vererbung zählt der Professor die „Epigenetik“ auf, nicht ohne sofort zu einer relativierenden Erklärung auszuholen. Denn während klassische genetische Umwelt- und Kulturvererbung hieb- und stichfest bewiesen sind, tastet sich die Wissenschaft an die Epigenetik als recht junges Forschungsfeld erst langsam heran. Bernhard Kegel definiert es in seinem Buch mit einem Zitat des US-amerikanischen Molekularbiologen Gary Felsenfeld als „Studium von (...) vererbbaren Veränderungen der Genfunktion, die nicht durch Veränderungen der DNA-Sequenz erklärt werden können“. Aber wie dann?

Hier kommen die Mechanismen ins Spiel, die im Rahmen der menschlichen Entwicklung manche Gene stumm schalten, so dass sie keinen Einfluss ausüben können. Einer davon wird als „Methylierung“ bezeichnet. Dabei docken Methylgruppen an bestimmten Stellen der DNA an und teilen der Zelle mit, dass sie die dort vorliegende Arbeitsanweisung bitteschön nicht auszuführen hat. Forscher vermuten, dass das „gene silencing“ zunächst eine Schutzfunktion erfüllt, um „parasitische Gensequenzen“, die sich im Laufe der Evolution im Erbgut eingenistet haben, in Schach zu halten. So zumindest erklärt es Bernhard Kegel in seinem Buch.

Allein das ist kompliziert genug. Und es gibt noch weitere Mechanismen solcher Modifikationen. Diese „epigenetischen Kodierungen“ sind nicht zu verwechseln mit Mutationen beispielsweise aufgrund von Strahlung, die ja die Gene als solche, nicht aber die Aktivitätszustände verändern.

Umwelteinflüsse schalten Gene stumm

Was bedeutet das nun in der Praxis? „Genaktivitätszustände können von einer Zelle an die Tochterzellen weitergegeben werden, aber nicht von den Eltern an ihre Kinder“, sagt Bernhard Horsthemke. Durch Umwelteinflüsse können Gene aktiviert oder stummgeschaltet werden. Das kann zum Beispiel durch ein sehr hohes Zuckerangebot in der Nahrung geschehen. Die Genaktivitätszustände können dann lebenslang durch epigenetische Mechanismen aufrechterhalten werden.

Horsthemke: „Bei einer schwangeren Frau hat diese Veränderung auch Einfluss auf das ungeborene Baby, das dann eventuell eine Disposition für Zuckerprobleme hat, die sich möglicherweise sogar in seinen eigenen Eizellen wiederfindet, da sich diese sehr früh bilden.“ So könne sich das Essverhalten der Mutter unter Umständen bis auf das Enkelkind auswirken.

Der umgekehrte Fall ist gut belegt: Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gab es eine schwere Hungersnot in Westholland. Die damals ungeborenen Kinder, die heute etwa 70 Jahre alt sind, haben ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Besonders groß ist der Effekt, wenn die Mutter während der ersten drei Monate der Schwangerschaft Hunger leiden musste.“ Auch bei erhöhter Cortison-Ausschüttung durch Stress könnten Genaktivitätszustände verändert werden, mutmaßen Forscher. Tierversuche hätten diesen Verdacht erhärtet. Noch aber sind viele Fragen rund um die epigenetische Vererbung offen.

Es gibt also viele gut dokumentierte und einige bisher nur fragmentarisch verstandene Möglichkeiten, wie sich aus dem Genom der Eltern ein genetischer Bauplan für ein Kind entwickelt. Doch das ist nur die halbe Geschichte: Hinzu kommt die psychologisch-soziologische Komponente. Denn auch, wenn viele Genetiker des Human Genome Project es sich anders gewünscht hätten: Das Erbgut liefert quasi nur das Filmbudget und die Basisversion des Drehbuchs, Umwelt und Kultur geben den Drehort und ein paar Rahmenbedingungen vor, doch darüber hinaus scheint jede Menge Raum für Improvisation zu bleiben. Wären da nicht diese kopierten Angewohnheiten und Vorlieben…

Eltern stecken nur den Rahmen ab

Gerade in Bereichen, die von eingängigen Routinen geprägt sind, würden Kinder von ihren Eltern besonders viele Verhaltensmuster übernehmen, sagt die Kulturpsychologin Dr. Anna Sieben von der Ruhr-Universität Bochum. „Das ist aber keineswegs festgelegt. Die Eltern stecken nur den Rahmen ab, in dem sich das Kind bewegt.“ Denn schließlich gibt es genug Menschen, die genau das Gegenteil von dem tun, was ihnen zu Hause vorgelebt wurde. Da wird die Anwaltstochter Bildhauerin, und der Sohn des Fußballtrainers entwickelt eine Vorliebe fürs Tanzen. Dennoch gilt: Wenn Kinder eine Vorliebe oder Einstellung von den Eltern übernehmen, dann in der Regel die, die ihnen mit echter Begeisterung vorgelebt wird.

Umgekehrt durchschauen auch kleine Kinder schnell, wenn die Schwärmerei nur gespielt ist. Eine Mutter, die dem Sohn erzählt, wie viel Spaß ihm das Turnen machen wird, obwohl sie niemals freiwillig eine Sporthalle betreten würde, wird vermutlich keinen leidenschaftlichen Turner aus dem Kind machen.

Auch Ängste können weitergegeben werden – hier spielt aber nicht Begeisterung sondern die authentische Darstellung der Bedrohung eine Rolle. „Wenn die Eltern vorleben, dass etwas gefährlich ist, wird das Kind das erst mal auch so übernehmen.“ Grundsätzlich ein sinnvoller Mechanismus.

Wir schauen uns also von unseren Eltern vor allem Erfolgsmodelle ab: Dinge, die sie glücklich gemacht, weitergebracht haben. Nicht immer müssen diese vermeintlich erfolgreichen Verhaltensmuster aber auch wirklich erfolgreich sein: Manchmal fehlt schlicht die Alternative. Denn zwar können viele Verhaltensweisen auch außerhalb der Familie erprobt werden – doch sehr private Dinge wie Konflikt- oder Beziehungsverhalten müssten im engen Familienkreis abgeguckt werden, sagt Anna Sieben. „Zu streiten übt man eben vor allem mit den eigenen Eltern.“ Und ist möglicherweise deshalb im jungen Erwachsenenalter „auf die Form beschränkt, die man dort gelernt hat“. Selbst, wenn man später merkt, dass es bessere Wege gibt, greift man vor allem unter emotionalem Druck auf die vertrauten Muster zurück. Psychologen sprechen von Handlungsskripten.

Hinzu kommt, was Professor Horsthemke als Vererbung von Umwelt und Kultur bezeichnet hatte: das Milieu, in das wir hineingeboren werden, seine Regeln und Gegebenheiten. Doch die Möglichkeit auszubrechen, sich zu verändern, ja, sogar seine Intelligenz zu steigern, steckt grundsätzlich in jedem Menschen. Dazu bedarf es nicht einmal unbedingt professioneller Hilfe. „Das kann auch in der Partnerschaft oder mit anderen Personen gelingen“, sagt Anna Sieben. Wer die Fähigkeit habe, sich selbst zu reflektieren, könne erlernte Verhaltensweisen abstreifen. Den Vorwurf, man sei „wie die eigene Mutter/der eigene Vater“ muss man sich in Zukunft vermutlich dennoch gefallen lassen. Am Ende ist Identität weder genetisch programmiert, noch von Umwelt, Kultur, Gesellschaft oder Familie aufgedrückt: Sie ist eine Essenz daraus, was ein Mensch aus seinen genetischen Voraussetzungen, dem Vorgelebten und Erlernten, und dem selbst Erdachten und Erprobten macht. So kann schließlich auch ein Remake zum vollkommen neuen Film werden, auch wenn die Schauspieler sich vielleicht ähnlich sehen.