Heiligenhaus. Der neue Kiekert-Chef Jérôme Debreu holt die Autoschloss-Produktion von Tschechien zurück nach Heiligenhaus. Im Interview spricht er über Gründe.

Kiekert ist der Weltmarktführer für Autoschließsysteme. Das Traditionsunternehmen mit seinen weltweit 5500 Beschäftigten hatte die Produktion am Stammsitz in Heiligenhaus bereits aufgegeben und die weitgehende Schließung der Zentrale dort beschlossen, als Jérôme Debreu den Vorstandsvorsitz übernahm. Im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet der 48-jährige Franzose, der aus Amiens stammt, warum Kiekert nun wieder in Heiligenhaus Autoschlösser baut und wie er den Umsatz des Unternehmens verdoppeln will.

Herr Debreu, Sie sind vor gut vier Jahren zum kriselnden Schließsysteme-Hersteller Kiekert nach Heiligenhaus gekommen. Warum tun Sie sich das an?

Jérôme Debreu: Bevor ich zu Kiekert gekommen bin, war ich schon 20 Jahre in der internationalen Automobilindustrie unterwegs – bei Webasto, Knorr-Bremse und Plastic Omnium. Der Knorr-Bremse-Eigentümer Heinz-Hermann Thiele war mein Industrie-Mentor. Für ihn habe ich unter anderem das Asien-Geschäft aufgebaut. Bei Plastic Omnium habe ich dazu beigetragen, den Umsatz zu verdreifachen. Nach 20 Jahren in der Welt wollte ich aber etwas anderes machen und nach Deutschland zurückkehren und habe mich für das kleinste Angebot entschieden: Kiekert.

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Kiekert hat die Zentralverriegelung erfunden und gilt als Weltmarktführer für Auto-Schließsysteme. Wie erklären Sie sich, dass sich das Unternehmen zuletzt dennoch in einer Dauerkrise befand?

Debreu: Kiekert hat die besten Ingenieure der Welt, die jährlich bis zu 200 Patente anmelden. Wir investieren pro Jahr 40 Millionen Euro in Forschung und Entwicklung. Das Unternehmen hatte aber lange Zeit schlechte Manager, die falsche Entscheidungen getroffen haben. Dazu gehört, dass alles bis auf die Schließsysteme verkauft wurde, darunter das Elektronik-Geschäft und Türen für Züge und S-Bahnen. Zuletzt gab es vier Vorstände, die ihre Zeit damit verbracht haben, sich untereinander zu streiten. Die Führungsstruktur war zu komplex und zu teuer. Das zeigt, wie sehr ein Unternehmen von einer soliden Führung an der Spitze abhängig ist und wie gefährlich unbedachte Entscheidungen und ein unfähiges Management sein können.

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Kiekert war lange ein Familienunternehmen. Seit 2012 gehört es dem chinesischen Staatsunternehmen North Lingyun Group. Sind Sie glücklich mit Ihrem Gesellschafter?

Debreu: Ich bin froh, dass Kiekert nicht mehr börsennotiert ist und keinem Private Equity Fonds gehört. Lingyun denkt in Dekaden. Wir unterliegen nicht der Tyrannei der Kurzfristigkeit und der vierteljährlichen Präsentation nach außen. Dabei sind wir eine AG geblieben, operativ unabhängig von unseren Anteilseignern und selbstfinanziert. Wir haben also alle Freiheiten und ausreichend Zeit, Kiekert wieder nach vorn zu bringen. Unsere Gesellschafter sind in Deutschland aber nicht und schon gar nicht in Heiligenhaus oder im Ruhrgebiet vernetzt. Hier arbeiten aber Menschen zum Teil in fünfter Generation. Deshalb ist für mich Geschichte ganz wichtig. Als erstes bin ich in den Keller gegangen und habe das eingestaubte Ölgemälde von Arnold Kiekert in mein Büro gehängt. Er hat das Unternehmen im Jahr 1857 gegründet.

Jérôme Debreu stammt aus Amiens in Nordfrankreich.
Jérôme Debreu stammt aus Amiens in Nordfrankreich. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Gibt es noch Vertreter der Familie Kiekert?

Debreu: Ja. Ich habe lange gesucht und in Velbert Volker Kiekert, den Urenkel des Gründers, gefunden. Ich habe ihn im Dezember 2022 zur Eröffnungsfeier für unsere neue Produktionslinie eingeladen. Da war er das erste Mal im Unternehmen. Ich kann nicht verstehen, wie man so mit seiner Geschichte umgehen kann. Die Firma muss wieder bodenständiger werden.

Sie haben nicht nur das Management ausgetauscht, sondern auch tiefgreifende Entscheidungen Ihrer Vorgänger zurückgenommen. Ende März 2023 sollten bei Kiekert am Stammsitz in Heiligenhaus eigentlich die Lichter für immer ausgehen.

Debreu: Es ist unglaublich, dass diese Entscheidung vor zehn Jahren getroffen wurde. Man hatte bereits einen großen Teil der Produktion nach Tschechien verlagert und wollte auch die Zentrale in Heiligenhaus weitgehend schließen, weil man in Deutschland keine Zukunft sah. Dadurch hat Kiekert unglaublich viele Fachleute, aber auch Vertrauen verloren. Kaum eine Bank wollte noch mit uns zusammenarbeiten.

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Wie haben Sie gegengesteuert?

Debreu: Im Dezember 2022 haben wir wieder eine Produktionslinie nach Heiligenhaus zurückverlagert. 2024 soll eine weitere folgen. Auch die Zentralfunktionen werden hier bleiben.

Warum holen Sie Produktion ins vermeintliche Hochlohnland Deutschland zurück?

Debreu: Weil es keinen Sinn macht, unsere Ingenieure und die Entwicklung hier in Heiligenhaus zu haben, die Fertigung aber in Přelouč. Zwischen den Standorten liegen 800 Kilometer. Ich bekomme nur Top-Ingenieure, wenn ich das Werk gleich nebenan habe. Das ist in der Rhein-Ruhr-Region der Fall. Hier gibt es die besten Leute, die beste Qualität und die beste Infrastruktur. In Osteuropa sehe ich da überhaupt keine Vorteile. Wir hatten eine Zerstückelung. Ein Körper läuft nur zusammen oder gar nicht.

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Und wie wollen Sie die Mehrkosten, die Sie in Heiligenhaus haben, wieder hereinholen?

Debreu: Deutschland ist der teuerste Standort der Welt, das stimmt. Man darf aber nicht nur auf die Lohnkosten schauen. Alles zusammengenommen ist Deutschland gar nicht so schlecht. Deshalb hole ich die Produktion zurück. Das kann ich mir aber nur erlauben, wenn ich hier auch High-Tech-Produkte habe und auf Automatisierung setze. Nur so können und werden wir wettbewerbsfähig sein. Aber die Rahmenbedingungen müssen sich drastisch verändern, damit das auch dauerhaft so bleibt: wir müssen Bürokratie abbauen und eine echte, sinnvolle Energiepolitik machen.

Nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine haben sich viele Unternehmen aus Russland zurückgezogen. Kiekert nicht. Warum?

Debreu: Wir bleiben in Russland. Das hat einen einfachen Grund: Als Unternehmen mischen wir uns nicht in die Politik ein. Unsere soziale Verantwortung gilt aber für alle Mitarbeitenden der Kiekert-Familie. Ich möchte in Russland nicht 200 Leute auf die Straße setzen, die keinen Anteil an den Entscheidungen ihrer Regierung haben. Unsere Schließsysteme sind rein zivile Applikationen. Wir stehen für den militärischen Bereich nicht zur Verfügung.

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Die Preise für Autos steigen. Elektroantriebe sollen den Verbrenner ersetzen. Wie wirkt sich die Transformation auf das Geschäft von Kiekert aus?

Debreu: Die Verkaufszahlen sind im vergangenen Jahr um zwei Prozent zurückgegangen. Die Hersteller müssen dennoch drei Technologien weiterentwickeln: Elektro, Verbrenner und Wasserstoff. Das erzeugt Druck, den die Konzerne an die Zulieferer weitergeben. Kiekert aber ist gut aufgestellt. Jedes Auto braucht ein Schließsystem, der Wettstreit der Ideologien betrifft uns nicht. Wir sind im vergangenen Jahr um vier Prozent gewachsen. Mein Ziel ist es, innerhalb von sieben Jahren den Umsatz von 800 Millionen auf 1,6 Milliarden Euro zu verdoppeln.

Wie wollen Sie das schaffen?

Debreu: Trotz der unruhigen Vergangenheit ist Kiekert immer noch Weltmarktführer für Auto-Schließsysteme. Wir beliefern aktuell mehr als 60 Hersteller in Deutschland, den USA, China, Japan und Südkorea. Mein Plan ist es, unseren bestehenden Marktanteil zu stärken und mit französischen, amerikanischen, japanischen, koreanischen und indischen Herstellern zu wachsen. Wir setzen dabei auf Innovation, Performance-Verbesserungen … und die Durchsetzung unserer Patentrechte. Denn einige unserer Wettbewerber haben versucht, sich unser geistiges Eigentum ohne Erlaubnis ‚auszuborgen‘. Derzeit sichern Kiekert-Schließsysteme 21 Prozent der Autos weltweit. 2030 soll dieser Anteil bei 35 bis 40 Prozent liegen.

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Viele deutsche Autobauer sehen in China den Markt der Zukunft. Teilen Sie die Einschätzung?

Debreu: Der Markt der Zukunft ist Indien. Dort gibt es im Vergleich zu China auch die jüngere Bevölkerung und Wachstumspotenzial, während sich China eher konsolidieren dürfte.

Können Sie das geplante Wachstum in Ihrem Werk in Heiligenhaus bewerkstelligen?

Debreu: Wir sind hier zur Miete. Das finde ich nicht gut. Wir wollen in Heiligenhaus bleiben und neu bauen. Der Bürgermeister weiß, dass wir ein vier Hektar großes Grundstück suchen. Kiekert will bis zu 30 Millionen Euro in den Neubau und die Verlagerung der Fertigung investieren. Aktuell suchen wir 150 neue Leute und wollen nach vielen Jahren wieder ausbilden.