Essen. Gas-Experte Sieverding warnt im Podcast „Die Wirtschaftsreporter“ vor Energiearmut. Kosten müssten fair verteilt werden. Sparpotenzial begrenzt.

Die Verbraucherzentrale in Nordrhein-Westfalen warnt vor akuter Energiearmut und fordert eine gerechte Verteilung der steigenden Kosten auf Versorger, Endkunden und Staat. „Die Gefahr, dass für Teile der Bevölkerung die Strom-, aber vor allem die Wärmekosten nicht mehr bezahlbar werden, ist groß. Für viele Haushalte ist die Grenze erreicht, dass sie nicht noch am Urlaub, Kino oder sonst irgendwo sparen können, um die Strom- und Gasrechnung zahlen zu können“, sagte Udo Sieverding, Energieexperte der Verbraucherzentrale, in unserem Podcast „Die Wirtschaftsreporter“.

Für die steigenden Energiekosten ginge in vielen Haushalten mit geringen Einkommen inzwischen „das Letzte an gesellschaftlicher Teilhabe“ verloren, so Sieverding. „Es geht für sie dann in die Armut, das sehen wir bereits verstärkt in unserer Energiearmuts- und Schuldnerberatung, dass hier die Fälle mehr und diese immer prekärer werden.“ Insgesamt gebe es in den Verbraucherzentralen zum Thema Energie derzeit so viele Anfragen wie noch nie.

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Die Folgen der Gaskrise infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine kommen demnach längst in den ärmeren Gesellschaftsschichten an. Und für den Fall, dass Russland seine bereits stark gedrosselten Gaslieferungen nach Deutschland ganz einstellt, käme es noch weit schlimmer. „Wir sind beim Gaspreis bislang bei einer Verdopplung, aber ein Ende ist nicht in Sicht“, glaubt Sieverding. Für viele Gaskunden könnten sich die Preise im Extremfall noch einmal vervielfachen.

Gaspreis verdoppelt, aber „Ende nicht in Sicht“

Dies vor allem, sollte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) den Gasversorgern erlauben, ihre gestiegenen Beschaffungskosten sofort an die Verbraucher weiterzugeben, egal, ob sie einen Vertrag mit Preisbindung haben oder nicht. Das ist möglich, seitdem Habeck die zweite von drei Stufen des Notfallplans Gas ausgerufen hat: die Alarmstufe. Damit sollen zum einen die Versorger vor Pleiten geschützt werden, wenn sie auf den Beschaffungskosten sitzen bleiben, zum anderen die Erhöhungen auf alle Endkunden verteilt werden.

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Was das im Ernstfall bedeuten würde? „Das wäre schlimm, wir hoffen, dass es nicht so weit kommt und müssen auch noch schauen, ob das überhaupt rechtlich zulässig wäre. Denn ein Kunde, der sich vor einem Jahr mit einer Preisgarantie für sechs Cent je Kilowattstunde eingedeckt hat, was damals normal war und heute ein grandioses Schnäppchen wäre, könnte aus seinen alten Konditionen rausgekündigt werden und müsste plötzlich 20 oder 25 Cent zahlen – das wäre eine Verdrei- oder Vervierfachung“, rechnet Sieverding vor.

Dass die Stadtwerke in solchen Fällen mit Zahlungsausfällen rechnen, kann Sieverding gut nachvollziehen. Andererseits habe auch niemand ein Interesse daran, dass reihenweise Gasversorger pleite gehen und der Energiemarkt zusammenbricht. Aber: „Die Lasten können nicht einseitig bei den Verbrauchern abgeladen werden, irgendwo in der Mitte liegt der richtige Weg. Und auch die Politik kann einen Teil des Risikos übernehmen“, meint der Experte und plädiert für „eine faire Lastenteilung“.

Zur Alarmstufe gehört auch er dringende Appell an alle, Gas zu sparen. Sieverding ist gespannt, ob das diesmal mehr Wirkung zeitigt als derselbe Appell bei Ausrufung der Frühwarnstufe Ende März, der weitgehend verpufft sei. Beim Thema, wie lang und wie heiß die Dusche aufgedreht wird, „gehen viele schon hoch, das ist ein sehr emotionales Thema“, weiß Sieverding. Es lasse sich aber auch viel Gas ohne Komfortverlust sparen – mit gedämmten Rohren und geringeren Vorlauftemperaturen etwa, „mit einer Heizungsoptimierung kann man viel erreichen“.

Zeit für bessere Thermostate und Heizungsoptimierung

Ebenso mit vergleichsweise günstigen Effizienzmaßnahmen wie intelligenteren Thermostaten, der Dämmung von Rollladenkästen und Heiznischen oder einem hydraulischem Abgleich im Heizungssystem. Man müsse aber auch realistisch bleiben: Mehr als zehn Prozent Verbrauchssenkung in einem Haus mit moderner Heizung und Dämmung bis 30 Prozent in einer Schrottimmobilie seien durch reine Sparmaßnahmen nicht drin.

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Am meisten bringt oft natürlich eine neue Heizungsanlage, aber: „Das ist nichts für Aktionismus. Wer jetzt eine Wärmepumpe bestellt, muss sieben, acht Monate warten, weil Anlagen und Fachkräfte fehlen“, sagt Sieverding und rät: „In den verbleibenden zehn bis zwölf Wochen bis zur nächsten Heizungsperiode sollten alle verfügbaren Installateure in die Keller gehen und die Heizungsanlagen optimieren. Damit könnten gerade in Mehrfamilienhäusern schnell 10 bis 15 Prozent gespart werden“.

Bei Mindesttemperatur „hin und hergerissen“

Bei der Frage, ob der Gesetzgeber die zu garantierende Mindesttemperatur für Mietwohnungen senken solle, damit im Winter mehr Gas gespart werden könne, ist der Verbraucherzentralen-Experte „hin und her gerissen“, schließlich dürften bestimmte Verbrauchergruppen wie Ältere, Kranke und kleine Kinder nicht frieren, zudem drohe Schimmelbildung bei zu niedrigen Temperaturen und schlechter Belüftung. Aber: „Von 20 auf 19 Grad zu gehen, lässt sich mit dem berühmten Pullover auffangen.“ Es sei richtig, darüber jetzt, „wo wir nicht wissen, wie wir über den nächsten Winter kommen“, zu diskutieren.

Manches geht ihm deshalb auch nicht weit genug. Er finde es etwa sinnvoll, wenn einige Schwimmbäder gerade ihre Wassertemperatur um zwei, drei Grad senken, etwa von 24 auf 22 Grad. Aber: „Heute habe ich von einem Schwimmbad gehört, das von 28 auf 25 Grad senkt. Da denke ich: Wir stehen hier gerade vor einer Gaskrise, müssen 25 Grad im Sommer wirklich sein?“