Essen. Das Wuppertal Institut bescheinigt dem Revier Chancen, eine Vorreiterrolle für grüne Industrie zu spielen. Doch die Studie sieht auch Rückstände.
Kann das Ruhrgebiet als früherer Inbegriff für Kohle und Schwerindustrie die „grünste Industrieregion der Welt“ werden? Diese Frage hat sich das renommierte Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie gestellt – und Antworten auf 159 Seiten gegeben. Sie fallen gemischt aus – mit Tendenz ins Positive. In Auftrag gegeben hat die Studie der Regionalverband Ruhr (RVR). Der hatte erst vor zwei Wochen ein Faktenbuch zu Umwelt- und Klimadaten des Ruhrgebiets vorgelegt.
Das Fazit von Manfred Fischedick, dem wissenschaftlichen Geschäftsführer des Wuppertal Instituts, vorneweg: „Wenn die Metropole Ruhr den Transformationsprozess ambitioniert und zielorientiert umsetzt, kann sie für viele industriell geprägte Ballungsräume weltweit zu einer beispielgebenden Modellregion werden.“ Das Revier sei „in einigen Bereichen schon sehr weit gekommen“, in anderen gebe es noch großen Nachholbedarf. „Diesen jetzt konsequent und beschleunigt aufzugreifen, bietet eine große Chance“, betont Fischedick.
Ruhrgebiet in zwei von sieben Kategorien vorn dabei
Doch wie misst man das Potenzial für den Umbau von der schwarzen zur grünen Industrieregion? Das Wuppertal Institut hat die jüngsten Fortschritte beim ökologischen Wandel im vergangenen Jahrzehnt in sieben Kategorien analysiert und leitet aus insgesamt 35 Indikatoren Prognosen für weitere Verbesserungen ab. Dabei geht es zum Beispiel um die Abkehr von der Kohle in der Grundstoffindustrie, um die Treibhausgas-Emissionen, Stickstoffdioxid- und Feinstaubwerte, die ökologische Güte der Gewässer und um den Ausbau erneuerbarer Energien.
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Das größte Potenzial sehen die Forscher für eine Vorreiterrolle in der Industrie. Dabei setzen sie etwa auf den Umstieg von Thyssenkrupp auf grünen Stahl, der Kohle durch Wasserstoff als Energieträger der Zukunft ersetzt. Dass dies machbar ist, haben die Stahlkocher im Duisburger Norden bereits bewiesen, in den kommenden Jahren wird es darum gehen, diese Technologie marktreif zu machen. Dafür braucht es eine Wasserstoff-Infrastruktur, massive Investitionen und auch staatliche Hilfe, wie Thyssenkrupp selbst immer wieder betont. Das Wuppertal Institut betont die Chancen: „Damit wird das scheinbar Unmögliche wahr: Die Stahlerzeugung selbst rückt in die Position eines Sektors der Umweltwirtschaft.“
Umweltwirtschaft ist bereits stark gewachsen
Die klassische Umweltwirtschaft hat sich bereits gut entwickelt: Die Zahl der Beschäftigten ist von 2010 bis 2019 um 12,4 Prozent gestiegen, bis 2035 hält das Wuppertal Institut einen weiteren Zuwachs um 35 Prozent für möglich – damit könnte das Revier hier tatsächlich eine Vorreiterrolle einnehmen. „Dies stabilisiert nicht nur die Beschäftigung in diesen Schlüsselbranchen, sondern strahlt auf andere Branchen aus, deren Entwicklung von der gesteigerten Umweltqualität profitiert“, heißt es in der Studie.
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Neben dem Umbau der bisher so klimaschädlichen Industrie sehen die Forscher dabei auch großes Potenzial für die Entwicklung neuer Technologien zur Dekarbonisierung an den Universitäten im Ruhrgebiet, die letztlich zu Ausgründungen junger Unternehmen führen können. Die Klima- und Energieexperten attestieren dem Ruhrgebiet hier das Potenzial, sich schneller und ambitionierter als andere Regionen zu entwickeln. Einen systematischen Vergleich mit anderen Regionen leistet die Studie aber nicht, räumen die Forscher ein, das nachzuholen wäre „wünschenswert“.
Forscher fordern vor allem mehr Stadtgrün im Ruhrgebiet
Ebenfalls auf einem guten Weg sieht die Studie das Revier beim Ausbau von Grün- und Erholungsflächen: Allein von 2017 bis 2019 sei die Größe der Grün- und Parkanlagen im Ruhrgebiet um sieben Prozent auf 15.877 Hektar gewachsen, die Revierparks und die Industriekultur mit ihren Landmarken sind dem RVR zufolge längst „anerkannte Markenzeichen der Metropole Ruhr“. Auch hier bescheinigt die Studie dem Revier großes Potenzial, noch deutlich grüner zu werden. Die Forscher raten hier vor allem dazu, im dicht besiedelten Ruhrgebiet im laufenden Jahrzehnt mehr Stadtgrün zu schaffen.
Eher hintenan als vorneweg sieht das Wuppertal Institut die Region zwischen Duisburg und Dortmund dagegen beim Ausbau erneuerbarer Energien. Viel mehr Solardächer, „Balkonkraftwerke“, sprich Photovoltaik an Balkongeländern und mehr Mieterstrommodelle empfehlen die Experten. Weil im Ruhrgebiet aber der Anteil von Mehrfamilien-Miethäusern deutlich größer ist als in anderen Regionen, fehle es im Verhältnis zur Bevölkerung an Dachflächen, um hier führende Rolle einnehmen zu können.
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Noch weiter zurück liegt das Ruhrgebiet der Studie zufolge bei der Klimabilanz im Verkehrssektor. Demnach hat zuletzt der motorisierte Individualverkehr sogar noch deutlich zugenommen – 58 Prozent der Wege werden hier mit dem Pkw oder Motorrad zurückgelegt. Dagegen haben Bus und Bahn weiter an Bedeutung verloren – ihr Anteil ist von 16 auf zehn Prozent gesunken. Das Fahrrad verharrt unter zehn Prozent. Der Rückstand ist zu groß, um noch Vorreiter werden zu können.
„Es ist ein ambitioniertes Ziel, aber die Metropole Ruhr meint es ernst: Wir wollen die grünste Industrieregion der Welt werden“, bekräftigt Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda, aktuell auch Vorsitzender der RVR-Verbandsversammlung. RVR-Direktorin Karola Geiß-Netthöfel, sagt: „Mit der Studie des Wuppertal Instituts wollen wir uns in Zeiten des Klimawandels visionäre Ziele setzen, die unseren Willen zum ökologischen Wandel zeigen. Industrie und Ökologie gehen dabei Hand in Hand und sichern unserer Region den Wohlstand von morgen.“