Essen. Ein Jahr nach dem ersten Lockdown in NRW ist die Lage schlimmer als zu Beginn der Pandemie. Ökonomen zeigen Alternativen zum Dauer-Lockdown.
Der 23. März 2020 war der Tag, an dem in NRW die Restaurants und Cafés schließen mussten. Ein geschlagenes Jahr später sind sie wieder zu, nun schon seit fast fünf Monaten. Die Friseure, Modeläden und Buchhändler nebenan durften mal öffnen, mal nicht. Bund und Länder haben nun die soundsovielte Verlängerung des Winter-Lockdowns beschlossen, mit neuen Verschärfungen, weil die Infektionszahlen – wie vorhergesagt – wieder steigen. Die Läden, die ein paar Tage mit Terminvergabe öffnen durften, bleiben ab Montag wieder zu. Die Politik reagiert in der dritten Corona-Welle nach dem gleichen Muster wie in der ersten. Ökonomen fordern einen Strategiewechsel im Kampf gegen das Virus.
Vor einem Jahr lag die Inzidenz bei 19
Hat Deutschland aus einem Jahr Corona mit seinen diversen Lockdowns nichts gelernt? Die nackten Zahlen sind unschön: Vor einem Jahr lagen 443 Menschen in NRW mit einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus, heute sind es 2163. Seinerzeit gab es 884 Neuinfektionen am Tag, zuletzt kamen 2905 hinzu. Als NRW vor einem Jahr die Kitas und Schulen schloss, lag dir Sieben-Tage-Inzidenz bei 19 Covid-Infektionen je 100.000 Einwohnern. Als das Land die Schulen vor zwei Wochen wieder öffnete, waren es 85. Ob es eine gute Idee sei, zu Beginn der dritten Ansteckungswelle die Schulen zu öffnen, bezweifelten viele. Jetzt liegt die Inzidenz bei 109.
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Kurzum: Die Lage ist ein Jahr nach dem ersten Lockdown um ein Vielfaches schlimmer, die Maßnahmen sind aber noch weitgehend dieselben, nur etwas lockerer als zu Beginn der Pandemie. Und weil Geschäftsleute sich auf Zahlen verstehen, schwindet ihre Hoffnung auf baldige Besserung mit jedem Tag. Ihre Wut weicht etwas Schlimmerem: Resignation. Die Nerven in den Boutiquen, Parfümerien und Cafés liegen blank, ihre Kassen sind leer, die Konten inzwischen auch – und noch immer kann ihnen niemand sagen, wann es wie weitergeht.
Die pandemische Schwäche der Demokratie
Unstrittig ist, dass sich seit dem Lockdown light im November nichts verbessert hat, eben weil er so leichtherzig war. Nachdem Politik und Wirtschaft einen Sommer lang erklärt hatten, man müsse eine zweiten Welle und damit einen zweiten Lockdown unbedingt verhindern, wollte die Regierung die sich leicht erholende Wirtschaft nicht wieder abwürgen. Die eigentliche Stärke der parlamentarischen Demokratie, auf die Stimmung im Land einzugehen, geriet in der Pandemie zur Schwäche. Und der vielstimmige deutsche Föderalismus ist offenkundig besonders anfällig für halbgare Kompromisse.
Dass ein endloser Lockdown light der Wirtschaft aber viel mehr schade als ein entschlossener, predigen spätestens seit Dezember Deutschlands führende Ökonomen. Sie waren gegen Ausnahmen an Weihnachten und sie begrüßen jetzt die Oster-Beschränkungen. Viel mehr fordern sie aber eine neue Krisenpolitik, weg von den schwer begründbaren Ausnahmen für wenige und landesweite Schließungen ganzer Branchen. Hin zu lokalen Öffnungen für alle, sobald es das Ansteckungsgeschehen zulässt, flankiert mit Schnelltests vor dem Eintritt in den Laden oder die Schule.
Ifo-Chef plädiert für Öffnung in „grüne Zonen“
Die vom ifo-Chef Clemens Fuest mitverfasste No-Covid-Strategie will durch striktes Testen und Nachverfolgen der Kontakte von Infizierten so genannte „Grüne Zonen“ ausweisen, in denen das Ansteckungsrisiko sehr gering ist. In diesen könnten die Menschen in die Normalität zurückkehren, nur ein Gefühl der Sicherheit könne auch die Fußgängerzonen wieder beleben, die wegen der Infektionsängste etwa auch im Advent deutlich leerer als sonst waren, obwohl die Läden öffnen durften.
Dem kann auch der Wirtschaftsweise Achim Truger viel abgewinnen: „Das sind sehr vernünftige Vorschläge. Voraussetzung dafür wäre aber, entsprechende Testkapazitäten zu schaffen.“ Für ihn ist es entscheidend, Teststrategie, digitale Nachverfolgung und vor allem die Impfkampagne endlich entschlossen voranzubringen. Denn: „Wenn wir damit nicht entscheidend vorankommen, wird sich die Krise mit ihren Folgen für die Wirtschaft noch lange hinziehen.“ Gleichzeitig warnt der Sozioökonom der Uni Duisburg-Essen aber vor pauschalem Politikbashing. Schließlich hätten die Wirtschaftsverbände stets als erste nach Lockerungen gerufen und so dazu beigetragen, dass die Lockdowns nicht zu hart wurden.
Ewige Lockdown-Verlängerung ist keine Lösung
Was auf dem ifo-Papier als „No Covid“ einfach klingt, wäre aber nur mit großem Aufwand durchsetzbar, das weiß Fuest. Es müsste etwa kontrolliert werden, ob Menschen aus „roten Zonen“ in „grüne“ fahren. „Das erfordert großes Engagement der Entscheidungsträger auf kommunaler Ebene und Kooperation zwischen Wirtschaft, Schulen und Politik“, betont der ifo-Chef. Im Subtext steht: Alle müssten sich deutlich mehr anstrengen, um eine differenzierte Öffnungsstrategie umzusetzen. Andererseits ist Fuest sicher, dass die bisherige Krisenabwehr versagt hat: „Die aktuelle Strategie der ewigen Lockdown-Verlängerung oder Öffnungen ohne Rücksicht auf Infektionen bieten keine akzeptablen Alternativen.“
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Die Gastronomie wäre sofort dabei: „Testet uns offen“, fordert ihr Verband Dehoga NRW. Er will, dass die Restaurants und Cafés „Geimpfte, Genesene und Getestete“ wieder bewirten dürfen. So, wie es etwa Israel mit seinem „Grünen Pass“ vormacht. Doch mit Impfprivilegien tut sich die Politik in Deutschland und auch ihr Ethikrat schwer. Zwar plant die EU einen Immunitätsausweis nach israelischem Vorbild ab Juni. Wofür er berechtigt, entscheiden aber die Länder selbst.
Mehr Homeoffice würde helfen
Große Hoffnungen setzen Ökonomen wie Virologen nach wie vor auch auf eine Ausweitung des Homeoffice. Zumal die jüngste Studie der TU Berlin ergeben hat, dass ein Infizierter in einem Großraumbüro ohne Maskenpflicht im Durchschnitt acht Kollegen ansteckt – im Supermarkt mit Maske dagegen nur einen und im zu einem Drittel besetzten Theater mit Maskenpflicht rechnerisch nur 0,5. Die Theater sind zu, viele Großraumbüros dagegen noch immer gut besetzt.
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Laut ifo-Institut waren zuletzt 30 Prozent der Beschäftigten ganz oder teilweise im Homeoffice. Damit sei das Potenzial trotz aller Appelle und Vorgaben der Regierung „bei weitem nicht ausgeschöpft“, so die Forscher, möglich sei es 56 Prozent aller Beschäftigten, zumindest einen Teil ihrer Arbeit zu Hause zu erledigen. Auch die im Januar nach vielen netten Appellen beschlossene Pflicht zum Homeoffice, wo es möglich ist, sei „bislang zum Teil verpufft“, urteilen die Wirtschaftsforscher.
Die Impfkampagne als Schlüssel aus der Krise
Die größte aller Hoffnungen ist aber natürlich das Impfen der Bevölkerung. Dass Deutschland hier weit hinter Ländern wie Israel, Chile, Serbien und auch EU-Ländern wie Ungarn und Dänemark zurückliegt, ist der Hauptgrund dafür, dass die Politik nach ihrem Schema aktuell wieder über Verschärfungen statt Lockerungen für die Wirtschaft diskutiert. Und NRW liegt mit einer Impfquote von 8,75 Prozent im Vergleich der Bundesländer auf dem drittletzten Platz.
Eingedenk dessen ist es umso heikler, dass eine der wenigen Lockerungen Urlaubsflüge nach Mallorca erlaubt. Schleppen Rückkehrer die dort nachgewiesene brasilianische Virus-Mutation ein, gefährdet das die aktuelle Impfkampagne, denn diese Mutante reagiert nach bisherigen Erkenntnissen nicht auf die zugelassenen Impfstoffe. Was es für die Wirtschaft, insbesondere Handel und Gastronomie bedeuten würde, wenn alle Bürger noch einmal neu geimpft werden müssten, mag sich derzeit niemand ausmalen.