Essen. Der heutige 1. Mai wird wohl mit der langen Tradition der General-Abrechnung der Gewerkschaften mit der Bundesregierung brechen: Mindestlohn, frühere Rente, Leiharbeit, Werkverträge – die meisten Reizthemen werden gerade von der Großen Koalition abgeräumt. Ist der Klassenkampf vorbei?

Eier fliegen, die Menge im Duisburger Landschaftspark tobt, Genossen grillen den Genossen Müntefering, der stramm, aber erfolglos die Reform-Politik der Sozialdemokraten zu verkaufen sucht. Agenda-Kanzler Schröder traut sich schon seit Jahren nicht mehr auf Mai-Kundgebungen. Es ist das Jahr 2005 und der Tag der Arbeit wird noch einmal ein Tag des Klassenkampfs. Acht Jahre später scheint der Kampf vorbei.

Der heutige 1. Mai wird wohl mit einer langen Tradition brechen: die General-Abrechnung der Gewerkschaften mit der Bundesregierung kann von der Tagesordnung gestrichen werden. Mindestlohn, frühere Rente, Leiharbeit, Werkverträge – die meisten Reizthemen werden gerade von der Großen Koalition abgeräumt. Wenn Arbeiter-Vorkämpfer neben Sozial- und Christdemokraten am Mikrofon stehen, gibt es mehr Gründe, sich gegenseitig großer Einigkeit zu versichern denn aufeinander loszugehen. Heute werden die Gewerkschaften den Mindestlohn nicht mehr fordern, sondern feiern.

Linksruck beider Volksparteien?

Wer will, kann darauf am gesetzlichen Feiertag der Arbeit anstoßen. Oder darin den Linksruck beider Volksparteien festmachen – oder die Ankunft der Gewerkschaften im politischen Establishment. Fest steht: So nah beieinander waren Arbeiterführer und Regierung nie. Das entspricht auch dem Zeitgeist in einem Land, das nach harten Agenda-Jahren, einer als Europas Klassenprimus überstandenen Wirtschaftskrise und einer seit dem Eierwerfer-Jahr 2005 annähernden Halbierung der Arbeitslosigkeit keinen Reformdruck mehr verspürt. Die Politik lockert die vom Genossenboss Schröder angezogenen Zügel wieder und stimmt sich dabei mit den Gewerkschaften ab. Selbst die Proteste der Arbeitgeber klingen eher halbherzig.

Auch das hat seinen Grund. Die vom Superminister Clement stark deregulierte Leiharbeit etwa will die Koalition rückreformieren. Nach neun Monaten sollen Leiharbeiter gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhalten. Die Arbeitgeber kritisieren das natürlich und betonen, nicht auf flexible Arbeitskräfte verzichten zu können. Viele Unternehmen treibt in Zeiten wachsenden Fachkräftemangels aber viel mehr um, wie sie gute Leute dauerhaft an sich binden können.

Großgewerkschaften profitieren von der guten Wirtschaftslage

Von der guten Wirtschaftslage profitieren vor allem die Großgewerkschaften, die unter dem Dach des DGB auch den 1. Mai organisieren. IG Metall und Verdi haben 2013 spürbar Mitglieder gewonnen. Dazu trägt die Rekordbeschäftigung bei, zusätzlich gingen ihre eigenen Strategien auf: Verdi streikte in etlichen Branchen, was die Kasse hergab, und zog damit neue Mitglieder an, die vor den Streiks beitraten. Die IG Metall erzielte Tarifabschlüsse mit Bonbons für bestimmte Gruppen – etwa Auszubildende und Leiharbeiter.

Aus dieser wiedererstarkten Position heraus und längst mit Pragmatikern statt Klassenkämpfern an der Spitze setzen die Gewerkschaften der Politik verstärkt die Themen vor. Die Blaupause für die Reform der Leiharbeit lieferte die IG Metall – mit einer jahrelangen Kampagne und als Ergebnis einem Tarifvertrag eigens für die Metall-Leiharbeiter.

Am für Deutschland in der Krise 2008/2009 so segensreichen Kurzarbeits-Gesetz schrieb die IG Metall fleißig mit. Ihr aktuell wichtigstes Thema sind die Werkverträge – Arbeitsministerin und IG-Metall-Mitglied Andrea Nahles arbeitet bereits an einem entsprechenden Gesetz gegen den Missbrauch als verkappte Leiharbeit. Sogar für die von Familienministerin Schwesig angeregte Eltern-Teilzeit will die IG Metall die Vorlage liefern – und in künftigen Tarifverhandlungen eine 30-Stunden-Woche für Mütter und Väter durchsetzen.

Und der DGB? Verabschiedet seinen alten Vorkämpfer Michael Sommer und bekommt als Nachfolger mit Reiner Hoffmann einen Wirtschaftswissenschaftler, der sich selbst als „Mann der Mitte“ sieht. Klingt nicht eben so, als müssten Politiker Auftritte zum 1. Mai bald wieder fürchten.