Essen. Jahre nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes sind deutsche Behörden überrascht, dass der Spruch den Staat mittlerweile 600 Millionen Euro kostet. Es ist die Logik der Freizügigkeit: Wer hier arbeitet, hat auch Anspruch auf die hiesigen Sozialleistungen. Und das kann noch teurer werden.
Die Geschichte von Waldemar Hudzinski ist die eines typischen Pendlers im grenzenlosen Europa. „Wanderarbeiter" nennt die EU-Bürokratie solche Leute, deren Arbeitskraft oft dringend gebraucht wird. Der Pole hatte wenige Monate in einem Gartenbetrieb am Niederrhein gearbeitet. Frau und zwei Kinder waren zu Hause.
Der polnische Staat zahlt zehn Euro Kindergeld, der deutsche 184. Hudzinski beantragte bei der Arbeitsagentur Wesel deutsches Kindergeld. Insgesamt wollte er 304 Euro. Die Weseler Behörde lehnte die Zahlung ab. Hudzinski klagte gegen die Absage, zuletzt vor dem Europäischen Gerichtshof.
Das Grundsatzurteil
Die Richter gaben dem Kläger am 12. Juni 2012 weitgehend recht. Es war ein Grundsatzurteil. Deutschland muss EU-Ausländern, die hier arbeiten und „unbeschränkt steuerpflichtig“ sind, Kindergeld auch dann zahlen, wenn Kinder in der Heimat beim anderen Elternteil leben. Das Gericht hat auf die „Freizügigkeit“ für Arbeitnehmer hingewiesen und darauf, dass die Rechtsvorschriften eines Staates für diejenigen gelten, die dort abhängig beschäftigt sind.
Brisanz für den Haushalt
Dabei wird der in der ausländischen Heimat gezahlte Anteil durchaus angerechnet. Waldemar Hudzinski und in der Folge viele weitere Pendler bekommen seither pro Kind 184 Euro vom deutschen Staat minus zehn Euro polnischer Anteil. Das kann sich bei einem weniger hohen Lohn, so für die berühmten „Spargelstecher“, zum bedeutsamen Zubrot addieren.
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Haben deutsche Behörden die haushaltspolitische Brisanz der Entscheidung C 611/10, die im Fall von Jaroslaw Wawrzynski aus Mönchengladbach genauso erging, verschlafen? Heute wundern sie sich: Aus der Forderung des Polen, der 304 Euro verlangt hatte, dürfte in den nächsten Jahren eine Etatbelastung von rund 600 Millionen Euro werden. Es ist eine grobe Schätzung, aber die Bundesagentur hat die Zahlen bestätigt, über die die „Welt“ am Dienstag berichtete. Denn das Urteil hat sich in Polen herumgesprochen. Die Zahl der einschlägigen Kindergeld-Anträge ist um dreißig Prozent gestiegen.
Überlastung in Ostdeutschland
14,4 Millionen Arbeitnehmer erhalten in Deutschland Kindergeld. 660.000 stammen aus einem anderen EU-Land. Ein Drittel davon kommt aus Polen. In jedem dritten der polnischen Fälle leben die Kinder nicht in Deutschland.
Die Familienkasse im sächsischen Bautzen ist also völlig überlastet, weil dort alle Polen betreffenden Vorgänge konzentriert sind. Es gibt einen riesigen Antragsstau, der unter erschwerten Bedingungen abzuarbeiten ist. Die Bautzener Mitarbeiter müssen nämlich jeden Einzelfall und seine Belege prüfen – so, wie es rheinland-pfälzische Familienkassen für niederländische Wanderarbeiter tun. Auch 14 Prozent der hier arbeitenden Niederländer haben Kinder in der Heimat wohnen.
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Weitere Kosten drohen
Bundesbehörden haben die Gültigkeit deutscher Sozialleistungen für Ausländer im Fall Hudzinski nicht zum ersten Mal unterschätzt. Erst vor zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden, dass Asylbewerber Unterstützung in Höhe der Hartz IV-Sätze bekommen müssen. Und um Hartz IV geht es auch beim nächsten Fall, den sie jetzt in Berlin mit einem gewissen Unwohlsein erwarten.
Der Europäische Gerichtshof wird entscheiden, ob EU-Ausländer, die hier einen Job suchen, berechtigt sind, Leistungen aus dem Paket des Arbeitslosengeldes II zu erhalten. „Wir gehen davon aus, dass dies nicht so ist“, sagt Werner Marquis, Sprecher der Bundesagentur für Arbeit in NRW. Kommt es anders, könnte es für Deutschland teuer werden.