Essen. “Armutszuwanderung“ ist ein heißes Thema im Europawahlkampf und Gegenstand eines Streits zwischen Brüssel und Berlin. Die Bundesagentur für Arbeit lieferte am Donnerstag neue Zahlen: Die Hilfebezieher vom Balkan sind eine kleine Gruppe - die deutlich wächst.

Neues Futter für die Debatte um die sogenannte Armutszuwanderung: Laut einer Erhebung, die die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg am Donnerstag veröffentlichte, ist im vergangenen Jahr die Zahl der Rumänen und Bulgaren, die in Deutschland „Hartz IV“-Leistungen beziehen, deutlich gestiegen: Von knapp 29.000 im November 2012 auf rund 44.000 im November 2013. (Bundesweite Zahlen für die letzten Monate liegen noch nicht vor). Das ist ein Anstieg um 51 Prozent.

Die Frage, in wieweit Bürger aus anderen EU-Ländern in Deutschland Anspruch auf „Hartz IV“-Leistungen haben, ist derzeit umstritten. Sozialgerichte haben in den vergangenen Monaten im Sinne der Ausländer entschieden. Die EU-Kommission in Brüssel dringt darauf, jeden Einzelfall zu prüfen.

Die Bundesregierung verfolgt dagegen die Politik, auch weiterhin alle Anträge von jenen pauschal abzulehnen, die nicht mindestens drei Monate in Deutschland legal beschäftigt waren. Die CSU fordert im Europawahlkampf, den Zugang zu den Sozialsystemen zu erschweren – und befeuerte die Debatte Anfang des Jahres mit der Parole „Wer betrügt, der fliegt“.

Ein Anteil im Promillebereich

Der deutliche Zuwachs um 51 Prozent scheint die Behauptung von einer ungehemmten Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme zu belegen. Man kommt aber nicht umhin, auch die folgenden Zahlen der Arbeitsagentur zur Kenntnis zu nehmen: Zum einen ist der Anteil der Rumänen und Bulgaren an den Leistungsempfängern verschwindend gering. Bei insgesamt rund 6 Millionen Hartz-IV-Empfängern machten Bürger aus diesen beiden Ländern nur 0,7 Prozent aus. Ist das schon eine Welle, die Deutschland überfordert?

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Und zum anderen bekommen nicht nur immer mehr Bulgaren und Rumänen Hartz IV, es bekommen auch immer mehr Bulgaren und Rumänen einen Job: die Zahl der Beschäftigten stieg im gleichen Zeitraum nämlich ebenfalls, und zwar von 119.000 auf 148.000 (plus 23 Prozent).

Ein Blick nach Essen, Bottrop und Olpe

Wie so oft gibt es große Unterschiede zwischen den Regionen. (Die folgenden Zahlen beziehen sich, weil Material für November noch nicht vorliegt, auf den Zeitraum von Oktober 2012 bis Oktober 2013). Die Stadt Essen verzeichnete bei den rumänischen und bulgarischen Hartz-IV-Beziehern eine Verdoppelung von 202 auf 407. In Bottrop stieg die Zahl kaum merklich von 10 auf 12. Und im Kreis Olpe ging sie von 18 auf 17 zurück.

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An ländlichen Kreisen wie Coesfeld, Höxter und dem Hochsauerlandkreis geht die befürchtete Armutszuwanderung vom Balkan sogar derart vorbei, dass die Jobcenter Probleme mit der Statistik haben: Wo weniger als drei Personen gezählt wurden, dürfen sie die Werte nicht mehr veröffentlichen – aus Sorge um den Datenschutz der Betroffenen.

Duisburg verzeichnet ein Plus von 74 Prozent

Besondere Aufmerksamkeit hatte in den vergangenen Monaten stets Duisburg, wo der Ärger um die Elendsquartiere zugewanderter Roma bundesweit Schlagzeilen machte. In Duisburg stieg die Zahl der gemeldeten Rumänen und Bulgaren im Vergleichszeitraum von 5560 auf 8760 (plus 57%). Die Zahl der Hartz IV-Empfänger aus diesen Ländern stieg von 514 auf 896 – also um rund 74 Prozent. Die Duisburger Zahlen zeigen: Unter Rumänen und Bulgaren wächst die Gruppe derer, die die Voraussetzungen für Hartz-IV-Leistungen erfüllen.

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Im Duisburger Jobcenter wird erwartet, dass dieser Trend sich verstärkt. Seit 1. Januar genießen auch Bulgaren und Rumänen volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Leiter des Duisburger Jobcenters, Norbert Maul, meldete im Januar, dass die Zahl der Beratungsgespräche mit Bulgaren und Rumänen spürbar ansteige. Noch erfüllten praktisch alle Neuankömmlinge die Voraussetzungen für Hartz-IV-Anträge nicht. Das werde sich aber ändern.

Das Jobcenter bereitet sich vor

„Da die Voraussetzungen, Sozialleistungen zu beziehen ja erst sukzessive erworben werden können", so Maul, "ist erst im Laufe des Jahres mit einer deutlich steigenden Anzahl von Anträgen zu rechnen." Bis April will seine Behörde eigene Anlaufstellen für Bulgaren und Rumänen eingerichtet haben.

Ob das die Furcht vor einer massenhaften "Armutszuwanderung" rechtfertigt, dürfte aber auch dann eine Frage der Wahrnehmung bleiben. In Duisburg gibt es, siehe oben, 896 Hartz-IV-Empfänger aus Bulgarien und Rumänien. Und 65 000, die nicht von dort kommen.