Bochum. . Weil sie in den Westen wollte, steckte die DDR Marion H. ins Gefängnis. Im Frauenknast Hoheneck musste sie Motoren für Westfirmen wickeln. Ein Millionengeschäft. Sie bekam aber nur vier Mark pro Monat für diese Zwangsarbeit. Die Neu-Bochumerin fordert Entschädigung – bislang vergeblich.
Die Berichte über DDR-Häftlinge, die unter Zwang Einzelteile für Westkonzerne wie Ikea, Aldi oder Otto fertigen mussten, haben Marion H. Mut gemacht. Erstmals spricht die 57-Jährige, die mit ihrem Mann in einem Einraum-Studio in Bochum lebt, öffentlich über Willkür und Pein, die sie im berüchtigten Frauenknast Hoheneck erfahren musste, und ihr Unverständnis, dass Zwangsarbeiter wie sie bis heute keine Entschädigung erhalten haben.
Marion H. hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie raus wollte aus der DDR. Als sie ihren späteren Mann in einem Tanzlokal in ihrer Heimatstadt Burg kennenlernt, wird ihr Wunsch, im Westen zu leben, eine Herzenssache. Peter H. ist in den 70ern Betriebsrat bei Opel in Bochum. Die beiden verlieben sich und bleiben über Briefe miteinander in Kontakt.
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Im Friseursalon festgenommen
Die Freundschaft zu dem Westler bleibt der Staatssicherheit natürlich nicht verborgen. Kurz vor ihrem Flug nach Ungarn, wo Marion und Peter gemeinsam Urlaub machen wollen, kreuzt die Stasi im Friseursalon, in der die damals 24-Jährige arbeitet, auf und nimmt sie fest.
Ihre Chefin hat sie bei der Stasi angeschwärzt, erfährt die Angestellte erst viel später. Bei ihrer Vernehmung gibt Marion H. alles zu. „Ich wollte schon immer weg. Ich war mit dem Staat überhaupt nicht zufrieden. Mir war in der Situation alles egal“, erzählt sie heute.
Wegen geplanter Republikflucht verurteilt ein DDR-Gericht die junge Frau zu drei Jahren und vier Monaten Haft. Ein halbes Jahr sitzt sie im Untersuchungsknast Magdeburg, bis sie nach Hoheneck verlegt wird. Rasch wird Marion H. in die Gruppe von Frauen eingeteilt, die Motoren für den Volkseigenen Betrieb Elmo wickeln.
Was die politischen Häftlinge zu dem Zeitpunkt nur ahnen, ist heute Gewissheit: Ob Bettwäsche, Strümpfe oder eben Elektromotoren – was in dem Gefängnis produziert wird, verkauft die DDR zu großen Teilen an Westfirmen. Der Arbeiter- und Bauernstaat braucht Devisen.
Zwangsarbeit für vier Mark im Monat
Allein der damalige Handelsriese Quelle pumpte Jahr für Jahr 250 Millionen Mark in den Osten Deutschlands. Eine Zahl, die Tobias Wunschik, Historiker bei der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin, ermittelt hat. Marion H. sieht von dem vielen Geld kaum etwas. Vier Ost-Mark erhält sie pro Monat dafür, dass sie Motoren wickelt.
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„Das reichte gerade einmal, um Körperpflegemittel zu kaufen“, sagt sie. Und das für einen Knochenjob. „Wir mussten im Akkord und im Drei-Schicht-Betrieb arbeiten. Manchmal 14 Tage am Stück. Das war Ausbeutung.“ Junge Frauen wie sie hätten das Pensum so eben geschafft, ältere dagegen nicht. „Sie mussten nach Schichtende lange nacharbeiten.“
Marion H. hat Glück. Sie muss nur von Februar bis November 1975 in Hoheneck bleiben. Dann wird sie überraschend von der Bundesregierung in Bonn freigekauft. Am Tag der Ausreise kommt der legendäre Rechtsanwalt Wolfgang Vogel nach Hoheneck. Er ist der Unterhändler der DDR für den Häftlingsfreikauf. Wieviel die Bundesregierung für die Freiheit der Frauen bezahlt, ist unbekannt.
Vom Westen freigekauft
Vogel gibt den Zwangsarbeiterinnen letzte Anweisungen, wie sie sich verhalten sollen. „Es war eine Nacht- und Nebelaktion, damit niemand etwas mitkriegte“, sagt Marion H. In drei Bussen geht es zum Notaufnahmelager in Gießen. Für die junge Frau wird ein Traum wahr. Sie ist im Westen, kommt zu ihrer Schwester, heiratet den Mann ihres Lebens. Und dennoch fällt ihr der Start im anderen Teil Deutschlands schwer.
Sie braucht lange, um Stasi und Knast zu vergessen. In ihren gelernten Beruf als Friseurin vermag sie nicht zurückzugehen. Die DDR-Zeit wühlt Marion H. bis heute auf. 1986 versucht das Ehepaar dann, Freunde in der Heimat hinter der Mauer zu besuchen. Trotz Tagesvisums endet die Reise aber an der Grenze in Berlin. Die Volkspolizei nimmt Peter H. fest und droht ihm sieben Jahre Haft wegen Beihilfe zur Flucht seiner Frau an.
Der Opel-Betriebsrat kommt in Untersuchungshaft. Rhetorisch geschult, versucht er immer wieder seine Rechte als Häftling einzufordern. Mit Erfolg: „Zum Abendessen bekam ich Senf. Und jeden Tag zwei Pralinen, die wir eigentlich als Geschenk für die Freunde mitgenommen hatten“, erzählt Peter H.
Willy Brandt schaltet sich ein
Doch letztlich hat er es seiner Frau zu verdanken, dass die U-Haft nur drei Wochen dauert. Marion H. hatte gleich nach der Festnahme das Büro des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt eingeschaltet. Von dort erhält sie dann den ersehnten Anruf: „Ihr Mann kommt frei.“
Inzwischen sind beide im Ruhestand und versuchen, ihr Leben zu genießen. Die Enthüllungen über Zwangsarbeit in der DDR haben bei Marion H. nicht nur Erinnerungen wachgerufen. Eine Entschädigung hätte sie auch gern. Doch alle Bemühungen in diese Richtung gingen bislang ins Leere.