Essen. Die Passagiere eines Airbus-Flugs sind im Dezember 2010 nur knapp einer Katastrophe entkommen. Beim Landeanflug sind beide Piloten fast ohnmächtig geworden. Angesaugte Gase im Cockpit sollen beinahe zu einem Flugzeug-Absturz geführt haben. Der interne Report liegt nun der WAZ Mediengruppe vor - und er liest sich wie ein Thriller.
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Giftige Dämpfe haben 1000 Meter über dem Rheinland fast zum Absturz eines Germanwings-Airbus geführt. Das Ereignis fand am 19. Dezember 2010 statt, wurde aber von der Lufthansa-Tochter in vollem Umfang erst mit langer Verzögerung gemeldet. Die Ursache des Zwischenfalls: angesaugte Gase aus einem Enteisungsmittel, die ins Cockpit gelangten und die die Piloten fast ohnmächtig werden ließen. Das Problem verunreinigter Kabinenluft ist seit langer Zeit bekannt. Zwischen Januar 2010 und diesem Sommer wurden europaweit 67 Fälle gemeldet.
Giftstoffe und Ölreste können ins Innere der Jets gelangen
Herbst 2011. Deutscher Bundestag. Die Abgeordneten wollen von Fachleuten wissen, ob in Cockpits und Kabinen der Verkehrsflugzeuge giftige Dämpfe auftreten. Die Grünen haben das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Im Ausland steht das Phänomen schon lange auf der Tagesordnung. In den USA hat eine erkrankte Stewardess sogar Schadenersatz erstritten.
Technisch bedeutet es: Mit der über kleine Düsen von außen eingesaugten Kabinenluft können Giftstoffe und Ölreste der Triebwerke ins Innere der Jets gelangen, die Übelkeit und sogar Lähmungen auslösen können. Erst bei ganz neuen Typen wie der Boeing 787 liegen die Ansaugstutzen nicht in Nachbarschaft zu den verdächtigen Antrieben. Eine andere Boeing, die Bauart 767, ist dagegen für diese Vorgänge geradezu berüchtigt.
Für die Abgeordneten recht überraschend sind sich die der Luftfahrtbranche nahestehenden Experten allerdings ziemlich einig: „Es gibt keinen Vorfall, der eine sofortige und generelle Änderung der Vorschriften rechtfertigt“, sagt Thomas von Randow vom Bundesverband der Luftverkehrswirtschaft. Die Lufthansa-Vertreter berichten allenfalls von „losen Plastikteilen“, die in der Bordküche gekokelt und zwei solcher Alarme ausgelöst hätten.
Das Protokoll des Beinahe-Absturzes
Da ist der dramatischste deutsche Vorfall dieser Art, am 19. Dezember 2010 auf dem Flughafen Köln/Bonn, noch kein Jahr her. Aber die Öffentlichkeit erfährt erst jetzt, wie der Flug Germanwings 753 aus Wien mit 149 Passagieren an Bord knapp einem Aufprall mit Tempo 400 auf die Betonpiste des Flughafens entgangen ist. Konkret: Seit die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BFU) in der letzten Woche den Zwischenbericht zum Vorgang veröffentlichte und „Welt“ und „NDR Info“ am Donnerstag darüber berichteten.
BFU 5X018-10, so heißt der Report intern, liest sich wie ein Thriller. Er liegt der WAZ-Mediengruppe vor.
- Der 19. Dezember ist ein typischer Dezembertag. Kalt. Viel Schnee. Eigentlich sollten die beiden erfahrenen Piloten, der Kapitän 35, sein Kopilot 26 Jahre alt, auf dem Airbus A 319 an diesem zwei Flüge absolvieren, nach Wien und nach Mailand und jeweils zurück. Doch schon in Wien hat man vier Stunden Verspätung, weil schwere Schneefälle aus Köln gemeldet werden.
- 20.12 Uhr. Germanwings 753 kann an der Donau endlich starten. Zuvor werden aber die Triebwerke enteist. Das passiert mit einer Glykol-Lösung.
- 21.30 Uhr. Nach ruhig verlaufenem Flug durch die Winternacht nähert sich der Airbus dem Luftraum Köln/Bonn. Die Piloten leiten den geraden Sinkflug auf den Adenauer-Flughafen ein. Sie sind jetzt gut 1000 Meter hoch, als beide einen „seltsamen, stark ausgeprägten unangenehmen Geruch“ wahrnehmen, „eine Mischung aus verbrannt und elektrisch riechendem“. Das alles aber nur im Cockpit. Die Fluggäste verspüren nichts, wie die Nachfrage der Piloten bei den Pursern ergibt.
- Etwas später. Zunächst scheint der Geruch nachzulassen, doch dann wird dem 26-jährigen Kopiloten „kotzübel“. Arme und Beine sind plötzlich taub. Er hat den Eindruck, nicht mehr klar denken zu können. Er will die Sauerstoffmaske aufsetzen, schafft das aber erst beim zweiten Anlauf. „Bring du den Vogel auf den Boden“, will er noch zum Kommandanten gesagt haben.
„Starkes Kribbeln an Händen und Füßen“
- Aber auch beim Kapitän treten „starkes Kribbeln an Händen und Füßen“ auf. Ihm „schwinden die Sinne“, berichtet die Unfalluntersuchungsstelle. Sein Gesichtsfeld schränkt sich ein. Er bekommt einen „Tunnelblick“, ihn befällt starker Schwindel. Auch der Kapitän zieht die Sauerstoffmaske über. Sie sind jetzt 12 Meilen von der Landebahn entfernt. Der Kopilot, dem es immer schlechter geht und der „die einzelnen Informationen nicht mehr verarbeiten“ kann, funkt auf die Anweisung seines Chefs hin Mayday, die Luftnotlage.
- Die Maschine ist für eine Landung immer noch „deutlich zu schnell“. Der Kapitän steuert manuell, glaubt aber selbst, „am Ende der Leistungsfähigkeit“ angekommen zu sein. Ihn stören selbst die eigenen Atemgeräusche in der Sauerstoffmaske. Er sieht sich weder psychisch noch physisch zu einem Durchstartmanöver in der Lage. Er entscheidet sich zur sofortigen Landung, obwohl dafür technisch noch nicht alle vorgeschriebenen Prozeduren abgewickelt sind.
- 21.32 Uhr. Der Jet ist 1800 Fuß hoch, etwa 600 Meter über Grund. Dem Kopiloten kommt diese Zeit „wie eine Ewigkeit“ vor. Dennoch versucht er, die so genannte „Klarliste“ abzuarbeiten. Das gelingt ihm. Auch die Geschwindigkeit stimmt jetzt. „Surrealistisch und wie in einem Traum“ – so erinnern sich beide Piloten später an die letzten Sekunden vor dem Aufsetzen, heißt es in dem Report BFU 5X018 -10.
- 21.34 Uhr. Der Airbus setzt in Köln/Bonn „deutlich spürbar“ auf. Die Piloten steuern ihn auf die Parkposition. Feuerwehr und Notarzt sind vor Ort. Die Piloten kommen in ärztliche Betreuung ins Porzer Krankenhaus. Nach zwei Stunden werden sie wieder entlassen. Es geht es ihnen besser.
Drama nach dem Drama: Flugschreiber und das Cockpit-Tonband werden nicht sichergestellt
- Das Drama nach dem Drama: Der knapp zehnminütige Albtraum hat zunächst keine Folgen. Flugschreiber und das Cockpit-Tonband werden nicht sichergestellt, obwohl die Techniker die Gase, die die Maschine nach dem Abstellen warten, noch 15 Minuten lang feststellen und dies auf ins Cockpit geleitete Ausdünstungen der Enteisungsmittel zurückführen.
- 23.32 Uhr. Das Landesamt für Polizeiliche Dienste in Duisburg meldet per Fax an das BFU, dass der Airbus mit „Rauch im Cockpit“ gelandet sei, bei den Piloten gebe es den Verdacht auf Rauchgasintox (Vergiftung). Germanwings meldet den Vorfall erst am nächsten Tag auf einem Online-Formular. Der Wortlaut ist als Stellungnahme des Flugkapitäns überschrieben. Zwar ist von „starkem Unwohlsein“ des Kopiloten die Rede, aber viele Details des Vorfalls fehlen. Schließlich heißt es sogar: „Die Landung erfolgte ohne nennenswerte Vorkommnisse“. Auch Germanwings meldet, die Geruchsentwicklung sei auf die Enteisungsflüssigkeit zurückzuführen.
- Erst ein Jahr später, so schreibt die Unfalluntersuchung, seien ihr „weitere Informationen“ zugekommen. Sie habe dann die in solchen Fällen gesetzlich vorgeschriebene Untersuchung einleiten können. So erfahren die Experten auch davon, dass bei den Piloten der Sauerstoffgehalt im Blut während des Landeanflugs und danach extrem niedrig lag – konkret bei unter 80 Prozent. Die Besatzung des Rettungswagens hatte das festgestellt. Eine genauere „Blutanalyse wurde nicht durchgeführt“. Nach einem späteren Arztbesuch wird einer der beiden Flugzeugführer für sechs Monate dienstunfähig geschrieben.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Vorfall im Dezember 2010 politische Folgen hat. In der Anhörung, die im November 2011 im Bundestag stattfand, fand die Forderung der Vereinigung Cockpit, wenigstens Sensoren in die Jets einzubauen, um Gasentwicklungen im Voraus zu entdecken, kein Gehör. Auch die Erwartung, dass Giftstoff-Filter eingebaut werden, wurde zurückgewiesen. Bislang seien die Fluggesellschaften einer umfassenden Untersuchung von Schadstoffen in der Innenluft von Flugzeugen aus dem Weg gegangen, hatte Cockpit-Sprecher Jörg Handwerg moniert. Airbus-Manager Andreas Bezold darauf: „Die Luft an Bord ist von einwandfreier Qualität“.