Essen. Noch-RWE-Chef Jürgen Großmann rechnet im Interview mit der Kanzlerin ab und erklärt, warum Kraft bei der NRW-Wahl gegen Röttgen so fulminant gesiegt hat. Außerdem zieht er Bilanz über fünf Jahre an der Spitze von RWE.
Was ist eigentlich mit den Deutschen los? Die wählen nur noch Kümmerer-Frauen. Hannelore Kraft ist wie Angela Merkel. Leute, die Sicherheit versprechen, werden gewählt.
Jürgen Großmann: Frau Merkel ist wirklich keine Kümmerer-Frau. Eher eine Macht-Mechanikerin. Aber im Ernst: So fängt das Interview an?
Sicher.
Jürgen Großmann: Ich glaube, die Menschen in NRW haben Herz gewählt und nicht Ratio. Der frühere Daimler-Chef Joachim Zahn hat gesagt: Wenn ich zwischen zwei Leuten auszuwählen habe, zwischen der kühlen Ratio und dem Herz, nehme ich immer den mit Herz und Charakter. Denn mit dem kann ich durch Dick und Dünn gehen.
Sie haben gerade ein schönes Charakter-Urteil über Norbert Röttgen abgegeben.
Jürgen Großmann: Ich habe den Namen nicht erwähnt.
Sie haben gesagt, auf Leute mit Ratio kann man sich im Zweifel weniger verlassen als auf Leute mit Herz. Röttgen war mal vehementer Atombefürworter, konnte dann nicht schnell genug aussteigen. Schadenfreude über seinen Rücktritt?
Jürgen Großmann: Nein. Zu jeder Karriere gehören auch Niederlagen, an denen man wachsen kann. Ich glaube erstens nicht an Kaminkarrieren und schon gar nicht an Karrieren ohne Widerstände. Wer glaubt, man komme hoch, ohne auch mal einen fürchterlich vors Knie zu bekommen, der kann auch nicht führen. Es gehört eine gewisse Demut dazu. Und die lernt man an Niederlagen.
Und der Grund für die Niederlage?
Jürgen Großmann: Am Ende gilt die Ruhrgebietsweisheit: „Mach mal Butter bei die Fische, was willste jetzt.“ Letzten Endes honorieren Menschen Standhaftigkeit und Klarheit.
Das heißt für NRW?
Jürgen Großmann: Die Wahl ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Schön ist, dass in dem Rot-Grün-Konzert das Rote etwas stärker geworden ist. Ich glaube, dass für den Wahlsieg der SPD zum Teil ein klares Bekenntnis zur Industrie verantwortlich ist. Natürlich muss man abwarten, was am Ende davon wirklich rüberkommt.
Ihnen hängt der Ruf an, der letzte Dino der Atom-Industrie zu sein.
Jürgen Großmann: Wollen wir sehen, wie im Jahr 2020 unsere Energie erzeugt wird. Die Sorge vor steigenden Energiepreisen nimmt zu, der Konsens der Staatengemeinschaft zu weitreichenden Maßnahmen zur Klimavorsorge ab.
Der Klimaschutz verliert an Konjunktur?
Jürgen Großmann: Hat er schon.
Wie das?
Jürgen Großmann: Ich könnte ganz simpel mit Brecht sagen: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Das gilt auch international. Ich bin selber bei der Klimakonferenz in Kopenhagen gewesen. Aber auch in Rio, Durban und Cancun war es ähnlich. Da gab es eine regelrechte internationale Klimaschickeria. Es waren 190 Privatflugzeuge da, die alle zu der Klimakonferenz wollten. Da sind alle möglichen „Smarties“. Ein Beispiel: Ein toller weiblicher Tennisstar, die sich auch als Klimaschützer fühlt, weil sie ein Hybridauto fährt, fliegt dennoch nach eigener Aussage einmal im Monat von Kalifornien nach Deutschland. Ich meine, wenn wir uns auf das politische Ziel von zwei Tonnen C02-Ausstoß pro Kopf und Jahr einigen wollen, dann hat die Dame nach gegenwärtiger Technologie einen Flug im Jahr nach Kalifornien frei. Aber dann weder ein geheiztes Haus noch ein Auto. Entweder wir glauben an das, was wir selber propagieren . . .
. . .Oder . . .
Jürgen Großmann: . . .wir müssen unser Leben radikal einschränken. Das wollen aber nur wenige. Es ist auch politisch kaum durchsetzbar. Abgesehen davon, dass die Chinesen heute schon so viel CO2 pro Kopf verbrauchen wie Franzosen. Indien, Indonesien, Brasilien, alle wachsen wie verrückt.
Was wäre vernünftig?
Jürgen Großmann: Wenn die Entwicklung so weitergeht, müssen wir uns überlegen, was wir tun können, um mit dem Klimawandel zu leben. Wir Deutschen geben eine unheimliche Menge Geld aus, um etwas zu verhindern, was wir alleine nicht verhindern können. Und wir geben wenig dafür aus, um mit den Veränderungen zu leben, den Wandel zu begleiten.
Sie denken, die Ablehnung der Atomenergie dreht sich wieder?
Jürgen Großmann: In Deutschland nicht.
In Europa?
Jürgen Großmann: Ja, möglich. Will denn Thyssen-Krupp die Rostfrei-Produktion nicht nach Finnland verlegen, weil die drei Kernkraftwerke haben, ein viertes bauen, ein fünftes planen und damit über günstige Energie verfügen?
Sie haben Ihren Frieden mit dem Atomausstieg immer noch nicht gemacht.
Jürgen Großmann: Wir haben uns beim RWE nie einer Energiewende versagt. Im Gegenteil haben wir das für richtig gehalten, langfristig aber und mit aller Ruhe. Was wir jetzt machen, muss sehr viel schneller gehen und hat zwei Folgen. Erstens wird es teurer und zweitens risikoreicher.
Wieso denn. Letzten Winter ist es ja gut gegangen.
Jürgen Großmann: Gut? Dann lesen Sie mal den Bericht der Bundesnetzagentur. Es gab eine Verdreißigfachung der Eingriffe der Netzbetreiber aus Zwangsgründen, damit das Netz stabil bleibt. Die ältesten bayerischen und österreichischen Öl- und Gaskraftwerke mussten dafür angefahren werden. Wir hatten zum Glück nur drei Wochen, in denen es richtig knackig kalt war. Wenn vorher der Schnee aus dem Westen gekommen wäre, dann erst die Kälte aus dem Osten, dann wären die vielen Photovoltaikdächer zugeschneit gewesen. Wir haben Glück gehabt, weil da, wo wir die Verbrauchszentren haben, viel Sonne geschienen hat und relativ wenig Wind im Norden kam. Dadurch war die Nord-Süd-Trasse im Netz nicht sehr belastet.
Und warum teurer?
Jürgen Großmann: Zweifelsohne müssen die Einspeisevergütungen für die Erneuerbaren bezahlt werden. Wenn also eine Kilowatt Stunde Kernkraft und irgendwann auch Braunkohlestrom ersetzt wird durch Erneuerbare, die keine Marktpreise haben, also immer nach Verfügbarkeit eingespeist werden mit dem zehnfachen Preis, kann man hochrechnen, wie teuer die Stromversorgung wird. Das kommt auf die Verbraucher zu. Das Karlsruher Institut für Technologieforschung erwartet einen Anstieg um 70 Prozent bis 2030. Das schlägt auch voll auf die Industrie durch.
Die Leute hatten nach Fukushima Angst. Sie haben – siehe oben – das Sicherheitsversprechen bevorzugt.
Jürgen Großmann: Ja, die Angst war da und das muss man auch ernst nehmen. Sachlich wäre es besser gewesen, auf Basis des Berichts der Reaktorsicherheitskommission zu sagen: „Unsere Kernkraftwerke sind sicher, wir brauchen nicht überhastet abzuschalten“. Frau Merkel hat in dieser Situation nicht politisch geführt, sondern hat an eine Ethikkommission delegiert, deren Entscheidung in dieser Zusammensetzung von vorn herein klar war.
Was heißt Führung?
Jürgen Großmann: Wenn man führen will, muss man Überzeugungen haben. Wenn die eigene Überzeugung nur die ist, an die Macht zu kommen und Macht zu behalten, dann reicht das nicht als Wahlprogramm und das merkt die Bevölkerung.
Viele Manager kommen heute sehr smart daher, effizient und angepasst.
Jürgen Großmann: Das wollt Ihr bei den Medien doch so . . .
Im Gegenteil. Wir sitzen doch hier bei Ihnen . . .
Jürgen Großmann: Ich bin ja in diesem Sinne kein Manager sondern Unternehmer.
Der Unternehmer, der Self-Made-Man sitzt jetzt in so einem Bürokratenturm, was war das eigentlich für eine Erfahrung?
Jürgen Großmann: Sicher, wenn man aus einem Laden kommt, wo jeder Raum mit Raufaser tapeziert ist und die Neonröhren oben auf dem Putz geklebt sind, weil es billiger war als sie in der Decke zu versenken, dann ist der RWE-Turm doch schon eine andere Erfahrung.
Das einzige, was hier laut ist, sind Sie.
Jürgen Großmann: Da ich mit zunehmenden Alter etwas schwerer höre . . .
Wir meinen Ihre Art . . .
Jürgen Großmann: Die Medien wollen doch die Leisen. Bloß nicht merken, wie gemanagt wird, Entscheidungen fallen hinter den Kulissen. Das bin ich nicht, wollte ich auch nie sein.
Hat RWE Großmann verändert oder Großmann RWE?
Jürgen Großmann: Sicher haben mich die fünf Jahre verändert. Ich hoffe übrigens, dass die Veränderung wechselseitig ist. Ich denke, auch RWE ist heute anders. Ich glaube, dass Peter Terium auf verschiedene Dinge, die ich versucht habe anzustoßen, ganz gut aufbauen kann.
Nämlich?
Jürgen Großmann: Ich habe versucht zu kommunizieren, dass wir ein einziges Unternehmen sind. Das war es vorher nicht unbedingt. Es gab sehr viele Einzelkulturen, die auch auf langen erfolgreichen Geschichten beruhten. In der Kölner Gegend spricht man immer noch nicht von RWE, sondern von Rheinbraun. Die operativen Vorstände waren lieber Vorsitzender bei einer großen Tochtergesellschaft, da waren sie die Herrscher aller Reußen. Das haben wir schon versucht zu verändern.
Mit der Brechstange.
Jürgen Großmann: Als Unternehmer ist man wahrscheinlich schroffer, schneller, ungeduldiger. Man muss natürlich hier im großen Unternehmen auch sehen, gewisse Entscheidungsprozesse brauchen eine Zeit. Die größte Kritik, die einem hier im Haus entgegen gehalten werden kann, ist der Satz: „Das ist ja mit mir gar nicht abgestimmt“. Ich weiß nicht, ob fortwährende Abstimmungsprozesse immer zu besseren Ergebnissen führen.
Haben Sie sich hier wohl gefühlt?
Jürgen Großmann: Ich habe mich schon wohlgefühlt. Sicher nicht an jedem Tag in diesen fünf Jahren. Ein DAX-Konzern ist nicht dazu da, dass sich der Vorstand wohl fühlt.
Haben Sie je an Rücktritt gedacht?
Jürgen Großmann: Nie.