Essen. Jürgen Großmann hat im Laufe der vergangenen fünf Jahre eine stattliche Anzahl von Prädikaten verliehen bekommen: Letzter Dinosaurier, Atom-Rambo, selbst Rock´n´Roller war darunter. Als passionierter Segler wäre auch Kapitän sicherlich passend. Am Donnerstag verabschiedete sich Kapitän Großmann von der Brücke des Essener Energieriesen RWE und legte bei der Hauptversammlung des Konzerns in der Grugahalle zum letzten Mal Rechenschaft ab.

Der für sein Selbstbewusstsein bekannte Zwei-Meter-Mann Großmann zog eine positive Bilanz seiner Amtszeit. Mit „sturmerprobten Leuten auf der Brücke“ habe man das gute Schiff RWE auf Kurs gehalten. Auch wenn man angesichts widersprüchlicher Entwicklungen „teilweise Dinge bei bewegter Fahrt über Bord“ habe werfen müssen. RWE sei flexibler, breiter und intelligenter. Seit 2008 arbeite der Konzern an seiner eigenen Energiewende. 23 Milliarden Euro seien in dieser Zeit investiert worden. RWE sei in Europa einer der größten Investoren auf dem Gebiet der Erneuerbaren Energien. Großmann: „Wir sind unverzichtbarer Treiber der Umgestaltung der Energiewirtschaft geworden.“

Mehr noch: Großmann sagte, dass die Energiewende machbar sei und im Jahr 2050 die deutsche Stromversorgung klimaneutral sein könne. Sie sei allerdings nur möglich, wenn Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gemeinsam anpacken.

Hätte Großmann nicht auch erwähnt, dass RWE gegen Atomausstieg und Brennelemente-Steuer klagt und die Energiewende „enorme Risiken“ birgt, man hätte meinen können, dass RWE in erster Linie Ökostrom produziert.

Slogan „VoRWEg gehen“ konnte Großmann nicht halten

Doch der 60-jährige Großmann, der Ende Juni seinen Posten aus Altersgründen räumt und vom Niederländer Peter Terium abgelöst wird, konnte den Slogan „VoRWEg gehen“, den er dem Konzern selbst verpasste, nicht umsetzen. Seine Bilanz ist gespalten.

Zwar war es Großmann, der mit der Schaffung der Konzern-Tochter RWE-Innogy den Konzern erstmals Richtung Ökostrom anschob, doch noch trägt Innogy nur ein mageres Prozent zum Konzernumsatz bei. Auf der anderen Seite stammen immer noch mehr als zwei Drittel des RWE-Stroms aus der Braunkohle, damit ist der Konzern eben auch größter CO2-Sünder Europas.

Außerdem: Großmann war eine der treibenden Kräfte für die Laufzeitverlängerung, den die Bundesregierung im Herbst 2010 beschloss. Als sie nach Fukushima die 180-Grad-Wende vollführte und erst das Atommoratorium und dann die endgültige Abschaltung verkündete, wehrte sich Großmann lautstark wie kein zweiter gegen die Abschaltung.

Darüber hinaus schmolz der Wert der RWE-Aktie in Großmanns Amtszeit um mehr als die Hälfte. Allerdings war sie auch ein Opfer der Finanzkrise und des Atomausstiegs. Letzterer riss regelrechte Krater in die Bilanz für das vergangene Geschäftsjahr: Das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) schrumpfte um 18 Prozent, das nachhaltige Nettoergebnis, nach dem sich die Dividende berechnet, sank gar um 34 Prozent. So schlug der Vorstand eine Dividende von zwei Euro je Aktie vor.

Applaus nach seiner Rede war eher pflichtschuldig

So erntete Großmann weder Beifallsstürme noch Loblieder bei seinem letzten offiziellen Auftritt als RWE-Chef. Der Applaus nach seiner Rede war eher pflichtschuldig.

Trotz des offensichtlichen Bemühens von Jürgen Großmann, den Ausbau der Erneuerbaren Energien zu betonen: Den Aktionärsvertretern reicht das nicht. „Aktuell geht ein Viertel des Investitionsbudgets in erneuerbare Energien, das ist aus unserer Sicht zu wenig. RWE ist immer noch das Schlusslicht mit rund drei Prozent des Betriebsergebnisses aus erneuerbaren Energien“, sagte Ingo Speich von Union Investment. RWE habe in diesem Bereich zu lange gewartet, jetzt müsse man auf Biegen und Brechen aufholen.

Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer von der Deutschen Schutzgemeinschaft für Wertpapierbesitz, sah auf Großmanns Haben-Seite, dass er den Weg hin zu den Erneuerbaren begonnen habe. „Doch das Werk ist nicht vollendet.“ Vielleicht erhält Jürgen Großmann ein weiteres Prädikat: der Unvollendete.

Proteste merklich abgeklungen

Dieses Bild ging im vergangenen Jahr durch Deutschland: Ein Bodyguard stellte sich schützend vor Jürgen Großmann, als Atomkraftgegner dessen Rede bei der RWE-Hauptversammlung mit Zwischenrufen und Trillerpfeifen störten. Etwa einen Monat nach der Katastrophe von Fukushima prallten damals Gegner und Befürworter der Kernkraft besonders heftig aufeinander. Zwölf Monate später sind die Proteste merklich abgeklungen. Rund 150 Demonstranten machten vor der Halle vor allem gegen die Braunkohle-Verstromung Front. Eine Handvoll wollte die Absperrung durchbrechen und wurde von der Polizei vorläufig festgenommen. Proteste bei Hauptversammlung: völlige Fehlanzeige.