Düsseldorf. . Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) kritisiert im Interview mit DerWesten die Unsicherheit nach dem Atomausstieg und fürchtet eine schleichende Aushöhlung des Standortes Nordrhein-Westfalen.

„Der Phönix fliegt“ lautet der Titel eines hochkarätigen Forums zur Energiepolitik in Essen. Im Vorfeld sprach DerWesten mit NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft über Chancen und Risiken der Energiewende.

Frau Ministerpräsidentin, in NRW arbeiten immer weniger Menschen in Industriebetrieben, gleichzeitig wächst der Widerstand gegen den Bau von Pipelines oder Kraftwerke. Sorgt Sie das?

Kraft: Wir müssen alles tun, damit die Akzeptanz für industrielle Großprojekte künftig noch gegeben ist. Die Bürger engagieren sich heute sehr viel mehr als früher. Für uns heißt das, wir müssen sie rechtzeitig informieren, um aus Betroffenen Beteiligte zu machen. Ich halte das für den einzigen Weg, um für notwendige Industrieprojekte zu werben.

Ist das Sache der Politik oder der Unternehmen?

Kraft: Das ist gemeinsame Aufgabe von Politik, Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen und Gesellschaft. Dies müssen wir in einer Akzeptanz-Initiative bündeln und vorantreiben.

Die Konjunktur trübt sich ein. Wie nehmen Sie in Ihren Gesprächen mit der Industrie die Lage wahr?

Kraft: Sehr unterschiedlich. Ich glaube zwar nicht, dass wir auf direktem Weg in die nächste Krise sind. Aber wenn im Stahlbereich die Erwartungen deutlich gesenkt werden, ist das meist ein Frühindikator für eine wirtschaftliche Abschwächung. Angesichts der unsicheren konjunkturellen Lage dürfen wir die Sonderregelungen zur Kurzarbeit nicht zum 31. Dezember streichen, wie das die Bundesregierung plant. Ich fordere stattdessen, die großzügigen Regeln zur Kurzarbeit – die uns in der Krise so gut geholfen haben – dauerhaft im Instrumentenkasten zur Bekämpfung konjunktureller Krisen zu lassen. Dann können wir im Notfall schnell reagieren, ohne erst neue Gesetze verabschieden zu müssen. Das unterstützen auch Industrie und Gewerkschaften als verantwortungsvolle Politik.

„Unternehmen wissen nicht, was genau kommt“

Sie haben im Zuge des Atomausstiegs vor Risiken für energieintensive Unternehmen gewarnt. Wie sehen Sie die Situation heute?

Kraft: Nicht gesichert. Die Unternehmen wissen noch nicht, was genau kommt. Es fehlen noch einige verlässliche gesetzliche Grundlagen, zum Beispiel für die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung. Zusätzlich sorgt die Euro-Krise für Unsicherheit. Deshalb stellt die Industrie ihre Investitionen zurück, weil ihnen sichere Planungsgrundlagen fehlen. Das kann zu einer schleichenden Aushöhlung des Standorts führen. Wir benötigen aber neue Kraftwerke, Speicherkapazitäten und Stromnetze. Dafür brauchen wir dringend einen Masterplan, der beschreibt, wer was wann tut.

Ihre Regierung will 25 Prozent CO2 bis 2020 einsparen, gegenüber 20 Prozent im EU-Durchschnitt. Da Klimaschutz Geld kostet, schwächen Sie damit die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Unternehmen in NRW.

Kraft: Nein. Wir haben die Einsparziele gegenüber der alten CDU/FDP-Regierung auf ein realistisches Maß abgesenkt. NRW ist ein großer Energieverbraucher und auch wir müssen unsere Hausaufgaben machen. Wir legen fest, was wir im öffentlichen Dienst möglich machen können. Und reden mit Wirtschaft und Industrie, um konkrete, aber zumutbare Schritte festzulegen Das gilt auch für den Verkehrsbereich oder die Gebäudesanierung.

Klimaschutz ist aber ein weltweites Problem. Noch so hehre NRW-Gesetzesziele sind doch sinnlos, wenn sie großen CO2-Emittenten wie China völlig egal sind?

Kraft: Das sehe ich anders. Jeder muss an seinem Platz zeigen, dass er Klimaschutz ernst nimmt. Gerade wir in NRW als Energiestandort Nummer eins haben auch die Aufgabe zu helfen, die Schöpfung zu bewahren. Leider hat die Bundesregierung kein eigenes Klimaschutzgesetz zustande gebracht. Ein solches Bundesgesetz wäre ein Signal.

„Es geht nicht um Klimapolitik allein“

Andererseits hält sich die SPD in NRW den Bau weiterer Kohlekraftwerke offen. Das konterkariert Ihre Klimaschutz-Pläne...

Kraft: Wenn man alte Kraftwerke durch moderne, effiziente ersetzt, reduziert man auch CO2-Emissionen. Es geht ja nicht um Klimapolitik allein. Wir müssen auch darauf achten, dass Sicherheit bei der Energieversorgung gewährleistet ist. Wir brauchen Konstanz in den Netzen, die Schwankungen sind ein großes Problem. Und wir müssen für Preise sorgen, die für Bürger bezahlbar sind und bei denen energieintensive Unternehmen wettbewerbsfähig produzieren können. Für viele von ihnen sind nicht mehr die Lohnkosten entscheidend, sondern die Energiepreise. Weil das so ist, brauchen wir auch noch viele Jahre möglichst effiziente Kohle- und Gaskraftwerke.

Durch den Vorrang der über den Strompreis subventionierten Erneuerbaren Energien wie Sonne und Wind rechnet sich der Neubau konventioneller Kraftwerke betriebswirtschaftlich oft nicht mehr. Die Industrie ist aber darauf angewiesen. Was tun?

Kraft: Sie haben Recht, dies ist einer der Punkte, die in der Eile des Atomausstiegs nicht optimal gelaufen sind. Das liegt auch nicht im Interesse Nordrhein-Westfalens. Dies gilt zum Beispiel auch für die unangemessen hohe Förderung der Photovoltaik. Sie wird nicht so bleiben, wie sie ist. Das sage ich voraus. Hier ist der Bund gefordert.

„Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg trifft Konzerne hart“

Stichwort Datteln. Wie groß ist der Imageschaden für das Energieland NRW, wenn das Eon-Kraftwerk als Milliardenruine endet?

Kraft: Einen Imageschaden haben wir schon, und ich würde bedauern, wenn es am Ende durch Entscheidung der Gerichte eine Milliardenruine wird. Aber es gibt eben nicht nur Datteln. Vergessen wir nicht, dass derzeit in NRW für rund 6,5 Milliarden Euro neue Kraftwerke gebaut werden. Vor Ort ist oftmals die Bürger-Akzeptanz erreicht worden.

Eon will 11.000 Arbeitsplätze streichen und plant Standort-Schließungen, RWE will Unternehmensteile verkaufen. Sind das Folgen des Atomausstiegs oder hausgemachte Probleme?

Kraft: Natürlich ist der Atomausstieg für beide Unternehmen nicht leicht zu verkraften. Der Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg und das Hin und Her treffen die Konzerne besonders hart. Aber selbst bei Eon räumt man ein, dass der geplante Personalabbau nicht nur mit der Energiewende zu tun hat. Ähnliches gilt wohl auch für RWE. Ich erwarte aber, dass strukturelle Veränderungen ohne betriebsbedingte Kündigungen erreicht werden.

Wie bewerten Sie die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre im Ruhrgebiet?

Kraft: Es gab Licht und Schatten. Wir stecken vor Ort weiter im Strukturwandel, und das wird auch auf absehbare Zeit so bleiben. Aber das Revier ist eine innovative Industrieregion. Absolut positiv ist, mit wie viel Energie die Unternehmen diesen Prozess begleiten, Ideen entwickeln und umsetzen. Das zeigt sich beim Initiativkreis Ruhrgebiet, den Kammern oder Unternehmerverbänden. Und die Größe und Breite des Engagements spiegelt sich auch eindrucksvoll in der hochkarätigen Besetzung des wirtschaftspolitischen Forums, das sich am 20. Dezember mit der Entwicklung des Ruhrgebietes befasst.

„Menschen aus der ganzen Welt werden kommen“

Was halten Sie von der ökologische Vorzeigestadt in Bottrop?

Kraft: Wenn Innovation City in Bottrop gelingt, werden Menschen aus der ganzen Welt hierher kommen. Null-Energiehäuser können viele neu bauen, aber ein ganzes Stadtviertel im Bestand zu verändern, das ist eine ganz besondere Herausforderung. Wir kämpfen dafür, dass die EU daraus ein europäisches Leitprojekt macht und es finanziell unterstützt. Wir werden die Unternehmen hierbei nach Kräften unterstützen.

Und künftig soll auch die Essener RAG-Stiftung mit ihrem angesparten Vermögen Industriepolitik betreiben?

Kraft: Die Stiftung muss das Geld für die Ewigkeitskosten des Bergbaus aufbringen, und das ist angesichts der niedrigen Zinsen schwer genug. Die Satzung der Stiftung will niemanden ändern.

Und Sie wollen Ex-Wirtschaftsminister Werner Müller an der Spitze sehen?

Kraft: Personalentscheidungen sind Sache der zuständigen Gremien. Dort werden mich die Interessen Nordrhein-Westfalens leiten.