Essen. Die langlebigen Industriechemikalien PFAS galten über Jahrzehnte als Wundermittel, nun werden wir sie nicht mehr los. Sie sind überall.
Gekommen, um zu bleiben. Per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen, kurz PFAS, sind seit mehr als 70 Jahren die Wundermittel der chemischen Industrie. Es gibt nur wenige Substanzen, die es mit ihnen aufnehmen können: PFAS sind wasser-, schmutz und ölabweisend, auch hohe Temperaturen, aggressive Chemikalien, Bakterien oder Licht können ihnen nichts anhaben. Sie sind Alleskönner, sie sind überall. Und das ist ihr Problem.
Über 10.000 verschiedene Stoffe umfasst die Gruppe der PFAS – einzigartig in ihren Eigenschaften und speziell für eine bestimmte Anwendung produziert. PFAS stecken in Alltagsprodukten wie Pizzakartons, Backpapier, Dönertüten oder Burger-Boxen. Man findet sie in beschichteten Pfannen, Lebensmittelverpackungen, in Outdoorjacken und Imprägniersprays, in Batterien, Wärmepumpen, Feuerlöschschäumen und Anti-Beschlagmitteln für Brillen.
Unsere Berichterstattung über PFAS-Chemikalien:
- Gefährliche PFAS-Chemikalie im Rhein: Quelle gibt Rätsel auf
- Niederlande klagen über deutsche PFAS-Chemikalien im Rhein
- Giftige Chemikalien PFAS: Wo Verbraucher die Stoffe finden
- Giftige Chemikalien PFAS: Belastung in NRW offenbar größer
Es gibt im Grund genommen drei Probleme: PFAS sind in vielen Fällen nachweislich giftig, sagen Wissenschaftler. Sie können Krebs verursachen, unfruchtbar machen oder das Immunsystem schwächen. Das größere Übel aber ist: Weil die Verbindungen so extrem stabil sind, können die industriell hergestellten und designten PFAS von der Natur nicht abgebaut werden. Sie sind auch nach Jahrzehnten nahezu unverändert. Deswegen werden sie „Ewigkeitschemikalien“ genannt. Und drittens: Von den PFAS, die in der Umwelt sind, ist nur ein kleiner Anteil auf seine Umweltwirkung bewertet.
Es gibt PFAS-Hotspots, an denen Luft, Böden und sogar das Trinkwasser belastet sind. Das „Forever Pollution Project“, ein Rechercheverbund internationaler Journalisten, hat in ganz Europa mehr als 17.000 möglicherweise belastete Orte identifiziert. Laut Studie seien die Chemikalien an mehr als 1500 Messstellen in Deutschland in Böden, Gewässern und im Grundwasser nachgewiesen worden – darunter auch an 400 Orten in NRW.
Der Weg der Chemikalien in die Natur beginnt meist während ihrer Verarbeitung in der Industrie. Über Abgase und Abwasser gelangen die PFAS in die Luft und ins Wasser. Die Belastung selbst ist mit Sinnen nicht zu erkennen, denn PFAS lassen sich weder sehen, noch riechen oder schmecken.
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Regen, Schnee oder die Bewässerung in der Landwirtschaft spülen die Chemikalien in die Böden. Von dort gelangen sie in die Lebensmittel oder ins Trinkwasser. Über Bäche, Flüsse und Meere verteilen sich die PFAS an die entlegensten Orte der Welt, man fand sie in der Arktis im Blut von Eisbären und Pinguinen.
Am Ende dieser Kette aber steht der Mensch. PFAS reichern sich im menschlichen Körper an, binden sich an Proteine im Blut, in Niere und Leber. Dort bleiben sie jahrelang. PFAS werden auch über die Muttermilch weitergegeben.
Fraunhofer Institut: PFAS weiter verbreitet als bisher angenommen
Wie stark sich PFAS über die Wasserwege verbreiten, zeigen jüngste Forschungsergebnisse des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME in Schmallenberg. In einer Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes kommen die Forscher zu dem Schluss, dass die Chemikalien wesentlich weiter verbreitet sind als bisher angenommen.
„Selbst in kleineren Flüssen fanden wir schon größere Mengen – auch an unbekannteren PFAS“, so Bernd Göckener, Abteilungsleiter Spurenanalytik und Umweltmonitoring am Fraunhofer IME, in einer Veröffentlichung des Instituts. „Oftmals ist es also kein lokales Problem mehr, sondern ein generelles. PFAS sind einfach überall.“
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Die Wissenschaftler sehen ein noch größeres Problem: Einmal in die Umwelt ausgebracht, können auch Vorläuferstoffe, die zur Herstellung von Chemikalien genutzt werden, zu klassischen PFAS oxidieren. Göckener: „Man wird diese Tausenden von Substanzen analytisch nie ganz fassen. Wir gehen davon aus, dass die Belastung sehr viel höher ist, als wir messen können.“
Besonders viele PFAS, so berichtet das Fraunhofer Institut, wurden flussabwärts von großen Kläranlagen und PFAS produzierenden oder verarbeitenden Industrien gefunden. Am Ende landen sie in der Nord- oder Ostsee, sagt Göckener: „Die Meere sind das große Auffangbecken für alle PFAS weltweit. Dort werden sie sich immer weiter anreichern.“
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Die Umweltorganisation Greenpeace hat immer wieder auf die PFAS-Funde in Flüssen, Strömen und Meeren hingewiesen. Vor wenigen Tagen veröffentlichte Greenpeace eine Studie über PFAS-Belastungen, die im Meeresschaum an deutscher Nord- und Ostseeküste festgestellt wurden.
Die Umweltschutzorganisation hatte nach eigenen Angaben im November und Januar neun Stichproben auf Norderney, Sylt, in Sankt Peter-Ording, Boltenhagen und Kühlungsborn genommen. Alle Proben lagen zwischen 290-fach und 3777-fach über dem dänischen Grenzwert für Badegewässer von 40 Nanogramm pro Liter, heißt es in der Studie.
Greenpeace findet PFAS im Rhein und im Meeresschaum an den Küsten
„In Dänemark und den Niederlanden warnen die Behörden vor dem Kontakt mit Meeresschaum und erklären, wie man sich nach einem Strandbesuch dekontaminiert. Deutsche Behörden testen nicht mal offiziell“, sagt Julios Kontchou, Ökotoxikologe von Greenpeace. „Wie in den Nachbarländern sollten die Behörden dazu auffordern, nach dem Kontakt mit Meeresschaum die betroffenen Hautstellen mit klarem Wasser gründlich abzuwaschen.“
Auch im Rhein fand Greenpeace PFAS: Die Umweltorganisation hatte nach eigener Darstellung im August und Oktober vergangenen Jahres an unterschiedlichen Stellen in Dormagen, Leverkusen, Dinslaken, Duisburg, Düsseldorf und Krefeld Wasserproben aus dem Rhein genommen. Alle Proben hätten einen Gehalt an Perfluoroctansulfonsäure (PFOS) enthalten, der den Umweltgrenzwert von 0,65 Nanogramm pro Liter überschreite. Hochgerechnet ergebe sich sogar sechsmal mehr als der Jahresgrenzwert, so Greenpeace.
„Wir können die PFAS-Emissionen begrenzen. Auf PFAS komplett verzichten können wir zurzeit noch nicht.“
Das Brisante: Die Substanz PFOS, eine langkettige Verbindung der PFAS- Gruppe, gilt als krebserregend und darf seit über zehn Jahren nur im Ausnahmefall, etwa für Feuerlöschschäume, produziert werden. „Es ist ein Skandal, dass wir ein Jahrzehnt nach dem Ende der Produktion in Deutschland derart hohe PFOS-Werte messen“, kritisiert Greenpeace-Experte Kontchou.
Stromabwärts in den Niederlanden sorgen solche Funde immer wieder für Probleme und Ärger. Denn für die niederländischen Trinkwasserversorger wird es immer teurer, die Chemikalien aus Deutschland aus dem Rheinwasser zu entfernen, das zur Herstellung von Trinkwasser benötigt wird.
Mögliches EU-Verbot der Chemikalien löst Debatte aus
In diesem Jahr will die Europäische Kommission über ein Verbot der PFAS-Chemikalien entscheiden. Gemeinsam mit den Niederlanden zählt Deutschland zu einer Gruppe von EU-Staaten, die einen Vorstoß für ein weitreichendes Verbot in der Europäischen Union eingereicht hatte. Industrieverbände sehen darin eine Bedrohung für Hightech-Industrien und fordern Ausnahmen.
Forschungseinrichtungen wie das Fraunhofer Institut weisen hingegen darauf hin, dass es noch viel Unklarheit über die genaue Zusammensetzung, Wirkung und Verwendung der riesigen Stoffgruppe PFAS gebe. Zahlreiche Unternehmen seien auf alternative Substanzen umgestiegen, die das Umweltbundesamt jedoch als ähnlich besorgniserregend einstuft. „Wir können die PFAS-Emissionen begrenzen“, sagt Stefan Löbbecke, Sprecher der Fraunhofer Allianz Chemie, der Forschungspartner der chemischen Industrie. „Auf PFAS komplett verzichten können wir zurzeit noch nicht.“
>>> Dies ist ein Text aus der Digitalen Sonntagszeitung.
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