Essen. Das Jahrhundert-Gift PFAS belastet laut einer Recherche mehr Orte, als bisher bekannt. Die Spuren der Chemikalien führen auch nach NRW.
Das Industrieland NRW wird von einem seiner größten Umweltskandale eingeholt. 16 Jahre nach den Verunreinigungen durch giftige Chemikalien im Wasser der Ruhr sind in NRW und in Deutschland immer noch viele Orte durch die extrem langlebigen und mutmaßlich krebserregenden Chemikalien PFAS (früher PFT) belastet. Das ist das Ergebnis einer Recherche von Süddeutscher Zeitung, WDR, NDR und internationalen Partnern. Die Medien beteiligten sich an dem „Forever Pollution Project“, das in ganz Europa mehr als 17.000 möglicherweise belastete Orte identifizierte.
PFAS: NRW weiß von 132 Fällen, Studie nennt 400 Orte
Laut Studie seien die Chemikalien an mehr als 1500 Messstellen in Deutschland in Böden, Gewässern und im Grundwasser nachgewiesen worden – darunter auch an 400 Orten in NRW. Das NRW-Umweltministerium teilte auf Anfrage mit, dass Stand Mai 2021 insgesamt 132 Fälle mit PFAS-Belastungen im Boden und Grundwasser in NRW gemeldet worden waren. Anders als in anderen Bundesländern werden in NRW als Folge des PFT-Skandals 2006 in einem Monitoring regelmäßig Industriestätten und Umwelt auf mögliche Belastungen untersucht. „Was wir sehen, ist vermutlich die Spitze des Eisberges“, sagte Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes, der SZ.
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PFAS (per- und polyfluorierte Chemikalien) umfassen eine Gruppe von mehreren Tausend Chemikalien. Sie sind wasser- und schmutzabweisend und werden in vielen Bereichen des Alltags verwandt, etwa in Outdoor-Bekleidung und beschichteten Pfannen, in Kosmetik, Pizzakartons oder in Löschschaum. Die Stoffe kommen in der Natur nicht vor, man kann sie weder riechen, schmecken noch sehen.
Umweltbundesamt: PFAS im Blut von Kindern
Wegen ihrer extremen Langlebigkeit in der Umwelt werden PFAS auch als „Jahrhundert-Gift“ bezeichnet. Einige PFAS sind bereits weitgehend verboten, weil sie als gefährlich gelten. Über Kläranlagen finden die Substanzen ihren Weg in Flüsse, Seen und Meere – oder auch ins Trinkwasser. Untersuchungen zufolge sollen die Stoffe Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit haben oder zu Entwicklungsverzögerungen bei Kindern führen können. Auch ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krebsarten wird angeführt.
Das Umweltbundesamt verweist auf Untersuchungen, nach denen die Industriechemikalien bei Blutuntersuchungen von Kindern und Jugendlichen bei jeder fünften Probe in hohen Konzentrationen festgestellt worden seien. Beim PFT-Skandal in NRW wurde 2007 bei einem Bluttest von 350 Einwohnern der Stadt Arnsberg eine Belastung festgestellt, die bis zu achtfach über dem Richtwert lag.
Rechercheverbund wertete Angaben von Behörden aus
In seiner aktuellen Veröffentlichung stützt sich der Rechercheverbund auf Angaben von Behörden und wertete zudem Parlamentsanfragen sowie Studien aus. Demnach ließen wissenschaftliche Veröffentlichungen vermuten, dass in der Nähe von bestimmten Industrie- und Militärstandorten die Gewässer und Böden mit PFAS verunreinigt sein könnten.
In verschiedenen US-Staaten und in Frankreich etwa hätten Behörden in der Nähe solcher Standorte ganz gezielt nach PFAS-Rückständen gesucht. NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung übertrugen die Kriterien auf Deutschland und identifizierten „Hunderte Orte, an denen Boden oder Grundwasser ebenfalls verschmutzt sein könnten“. Die Autoren kritisierten, die Bevölkerung werde oftmals nicht über eine Belastung informiert.
PFAS im Löschwasser der Düsseldorfer Flughafen-Feuerwehr
Laut der Recherche gibt es in Deutschland sechs Fabriken, die PFAS produzieren oder dies bis vor kurzem taten – eine davon sei Lanxess in Leverkusen. Laut Unternehmen falle dabei PFAS-haltiges Abwasser an, das vorgereinigt und dann zum Klärwerk geleitet werde. Feste Rückstände – eine einstellige Tonnenzahl pro Jahr – würden laut gesetzlichen Vorgaben in einer Sondermüllverbrennungsanlage entsorgt, wird ein Lanxess-Sprecher zitiert. Mitarbeiter würden regelmäßig auch auf perfluorierte Verbindungen getestet. Krankheitsfälle in diesem Zusammenhang seien nicht bekannt.
In der Recherche werden weitere Fälle in NRW erwähnt, bei denen PFAS-Belastungen festgestellt wurden, darunter auch Gebiete rund um den Düsseldorfer Flughafen. Bei Einsätzen der Flughafen-Feuerwehr beim Flughafenbrand 1996 oder beim Löschen einer Maschine 2005 seien die giftigen Chemikalien im Löschschaum enthalten gewesen und so in Boden und Grundwasser gelangt. Laut NRW-Umweltministerium seien 75 Prozent der in NRW gemeldeten PFAS-Fälle auf Kontaminierung durch Löschmittel zurückzuführen.
PFT-Skandal in NRW: Verbot der Chemikalien gefordert
Beim PFT-Skandal 2006 in NRW war eine sehr hohe PFAS-Konzentration im Einzugsgebiet von Ruhr und Möhne der Auslöser. Grund dafür war, dass über mehrere Jahre PFAS-haltiger Industriemüll illegal statt Dünger auf Feldern verteilt worden war. Ein Prozess gegen die mutmaßlichen Hauptverursacher wurde 2013 gegen Geldauflage eingestellt. Die fünf Angeklagten mussten eine Strafe von insgesamt 440.000 Euro zahlen.
Hintergrund: Verbot der Chemikalien: Diese Produkte sind betroffen
Der Einsatz der Industriechemikalien PFAS löst seit Jahren weltweit Bedenken und Kritik aus. Innerhalb der EU fordern Deutschland, Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Schweden ein Verbot der Stoffe. Sie schätzen, dass in den kommenden 30 Jahren mindestens 4,4 Millionen Tonnen PFAS in die Umwelt gelangen, wenn es keine Regelung für die risikoreichen Chemikalien gibt. Unternehmen sollen je nach Verwendungszweck und Verfügbarkeit zwischen anderthalb und zwölf Jahren Zeit bekommen, um auf alternative Stoffe umzustellen. Mit einer Umsetzung des Verbots wird frühestens 2026 gerechnet.
NRW-Umweltminister Krischer: Ersatzstoffe mitbedenken
NRW-Umweltminister Oliver Krischer begrüßte den Vorstoß: „Ewigkeitschemikalien wie PFAS sind Jahrhundertgifte und reichern sich mit jedem Tag mehr in Gewässern, Böden und im menschlichen Körper an – und können eben nicht abgebaut werden“, sagte er dieser Redaktion. Bei einem Verbot müssten „mögliche Ersatzstoffe direkt mitbedacht werden, damit von diesen nicht ähnliche Umweltauswirkungen ausgehen.“