Berlin. Der Mindestlohn wird zehn Jahre alt. Kanzler Scholz will ihn trotz Krise auf 15 Euro pro Stunde erhöhen. Dagegen gibt es Widerstand.

Zum Jahreswechsel steigt der gesetzliche Mindestlohn an: Von aktuell 12,41 Euro auf dann 12,82 Euro pro Stunde. Doch geht es nach Bundeskanzler Olaf Scholz, dann reicht dieser Schritt nicht aus. Der SPD-Politiker verspricht im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2025 eine Anhebung auf 15 Euro pro Stunde. Schon im letzten Wahlkampf hat er mit einer Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro geworben, die am Ende von seinem Parteifreund und Arbeitsminister Hubertus Heil umgesetzt wurde.

Seit seiner Einführung zum 1. Januar 2015 ist der Mindestlohn ein Dauerstreitthema. Noch bevor es die gesetzliche Bezahlungsuntergrenze gab, warnte die Wirtschaft vor den Folgen: Fast eine Million Arbeitsplätze würde gefährdet, befürchtete Hans-Werner Sinn, der damalige Chef des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. So aber kam es nicht.

Social Democrats (SPD) Present Election Campaign Policy Program
Olaf Scholz verspricht im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2025 eine Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro pro Stunde. © Getty Images | Maja Hitij

Im Wahlkampf kommt nun erneut die Frage auf: Nützt oder schadet der Mindestlohn eher der Wirtschaft und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern?

Auch interessant

2015: Einführung des Mindestlohns unter Kanzlerin Merkel

Das Mindestlohn-Gesetz ist einfach und wirksam. Momentan schreibt es vor, dass grundsätzlich alle Beschäftigten hierzulande pro Stunde mindestens 12,41 Euro brutto erhalten müssen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Eine Kommission aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaftlern beschließt über regelmäßige Erhöhungen. Der Zoll kontrolliert, dass die Firmen den Lohn auch tatsächlich zahlen.

Angela Merkel hat gemeinsam mit der Großen Koalition 2015 einen Mindestlohn in Deutschland eingeführt.
Angela Merkel hat gemeinsam mit der Großen Koalition 2015 einen Mindestlohn in Deutschland eingeführt. © AFP | Rolf Vennenbernd

Als das 2015 eingeführt wurde, war es ein Quantensprung. Knapp vier Millionen Beschäftigte, die vorher teils deutlich weniger verdienten, hatten plötzlich das Recht auf 8,50 Euro pro Stunde – darauf verständigte sich die große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor allem auf Druck der Sozialdemokraten. Es handelte sich um eine Abkehr von der vorherigen Politik der teilweisen Deregulierung des Arbeitsmarktes, die einen breiten Niedriglohnsektor hatte entstehen lassen. Viele Leute, die in Restaurants, Geschäften, Reinigungsfirmen, Schlachthöfen, auf dem Bau oder bei Sicherheitsdiensten arbeiteten, verdienten so wenig, dass sie davon kaum noch leben konnten. „Damals arbeiteten mehr als 20 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor“, sagt Thorsten Schulten von der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung. Heute seien es dagegen „vielleicht noch 15 Prozent“.

Der gesetzliche Mindestlohn reduzierte nicht nur die Zahl der arbeitenden Armen, sondern verringerte auch die Ungleichheit zwischen Leuten mit geringen und guten Einkommen. So sorgte er für eine höhere Zufriedenheit unter den Beschäftigten, die vom ihm profitierten, und wirkte einem verbreiteten Ungerechtigkeitsgefühl entgegen.

Einführung des Mindestlohns hatte deutlich weniger Auswirkungen auf die Stellen als befürchtet

Und die Auswirkungen auf die Zahl der Stellen war weit geringer als befürchtet. Wirtschaftsverbände und Wissenschaftler wie ifo-Chef Sinn hatten argumentiert, die höheren Arbeitskosten würden Jobs vernichten, weil die Firmen sie sich nicht mehr leisten könnten. Sie bezifferten die möglichen Verluste auf bis zu 900.000 Stellen. Tatsächlich sank zunächst etwa die Zahl der Mini-Jobs um 150.000, andererseits nahmen im Gastgewerbe, dem Handel und anderen Branchen die besser bezahlten Verträge zu. Firmen kompensierten die Arbeitskosten beispielsweise dadurch, dass sie ihre Abläufe verbesserten, also ihre Produktivität steigerten, oder die Preise der Produkte und Dienstleistungen anhoben.

Auch interessant

Bundestag - Vertrauensfrage
Von Johann Stephanowitz, Jan Dörner, Theresa Martus und Leonhard Rosenauer

Andererseits fiel die Einführung des Mindestlohns in eine Zeit, in der die hiesige Wirtschaft insgesamt gut lief. Die Unternehmen brauchten mehr Leute, nicht weniger. Noch bis vor kurzem stieg die Zahl der Beschäftigten Jahr für Jahr auf neue Rekorde. Mittlerweile macht sich außerdem der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel bemerkbar. Um knappes Personal zu halten und zu gewinnen, bieten die Firmen auch von sich aus höhere Gehälter. Dass der Mindestlohn wächst, entspricht diesem Trend.

waiter carrying tray with food for the guest of Oktoberfest
Der gesetzliche Mindestlohn reduziert nicht nur die Zahl der arbeitenden Armen, sondern verringert auch die Ungleichheit zwischen Leuten mit geringen und guten Einkommen. © iStock | golero

Parallel dazu ändert sich jedoch die wirtschaftspolitische Situation. Statt moderaten Wachstums herrscht nun Stagnation. Passt da die Forderung der Sozialdemokraten in die Welt, die Lohnuntergrenze in einem großen Schritt auf 15 Euro anzuheben? Die Mindestlohn-Kommission selbst hat für den Jahresbeginn 2025 nur ein Plus von 12,41 Euro auf 12,82 Euro festgesetzt.

Maßgabe der EU: Nationaler Mindestlohn soll bei 60 Prozent des mittleren Lohnniveaus liegen

Die Ursache für diesen Dissens bildet ein politischer Konflikt. Seit 2015 beschloss die Kommission die Entwicklung der Lohnuntergrenze im Konsens ihrer jeweils drei Gewerkschafts- und Arbeitgebermitglieder. In dieses Verfahren grätschte 2022 aber die SPD-geführte Bundesregierung hinein und setzte eine größere Anhebung auf 12 Euro durch. Darauf reagierte die Kommission mit zwei kleinen Schritten für 2024 und 2025, indem sich die Vorsitzende auf die Seite der Arbeitgeber stellte und die Gewerkschaften überstimmte. Seitdem fragt man sich: Wie tragfähig ist der Kommissionsmechanismus noch?

Zudem beruht der politische Konflikt auf unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Maßstäben und Einschätzungen. Die Kommissionsmehrheit verweist auf die im Gesetz verankerte Orientierung an der Entwicklung der gesamten Tariflöhne, was Erhöhungssprünge um beispielsweise 15 Prozent, wie es bei 15 Euro der Fall wäre, ausschließe. Das IAB-Institut der Bundesagentur für Arbeit erklärt: Schon bei einer Anhebung des Mindestlohns auf 14 Euro würde ein Fünftel der Betriebe Beschäftigung reduzieren. SPD und Gewerkschaften betonen dagegen eine Maßgabe der EU: Die Staaten sollen dafür sorgen, dass der nationale Mindestlohn bei 60 Prozent des mittleren Lohnniveaus liege. Das wären hierzulande über 15 Euro, hat die Hans-Böckler-Stiftung berechnet.

Wie könnte die Lösung aussehen? Die 15-Euro-Ansage von Olaf Scholz ist eine Forderung im Wahlkampf – nicht besonders realistisch. Ein Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) würde wohl nicht in diese Richtung intervenieren. Andererseits scheinen sowohl die Unternehmerverbände als auch die Gewerkschaften eine Interesse daran zu haben, den regierungsunabhängigen Einigungsmechanismus am Leben zu erhalten. „Die Kommission will sich stabilisieren, damit die Gewerkschaften nicht aussteigen“, sagt Böckler-Wissenschaftler Schulten. „Deswegen kann es sein, dass das 60-Prozent-Ziel der EU als ein Orientierungspunkt neben anderen akzeptiert wird.“ Der nächste Erhöhungsschritt könnte deutlich über 13 Euro pro Stunde liegen, aber auch beträchtlich unter 15 Euro.