Dortmund. Im Prozess am Arbeitsgericht zeigt sich der Richter verwundert über die Vorgänge beim kommunalen Energiediscounter Stadtenergie.

Es ist ein scheinbar ungleicher Kampf. Nicht weniger als sechs Juristen sind die wenigen Hundert Meter von der Zentrale des Dortmunder Energieversorger DEW21 zum Arbeitsgericht gelaufen. Dort treffen sie auf M., jenen ehemaligen Manager der DEW-Tochter Stadtenergie, den die Anwälte für den Schuldigen im Millionenskandal um den Energiediscounter halten.

M. soll im großen Stil Abrechnungen manipuliert haben, den Verlust für das Unternehmen beziffern die Anwälte auf mehr als 70 Millionen Euro. Er wurde fristlos entlassen. Doch damit will sich der Ex-Manager nicht abfinden. Er klagt gegen seine Kündigung. M. will wieder eingestellt werden – und außerdem 20.000 Euro Bonus für das Jahr 2023 ausgezahlt bekommen.

DEW 21 in Dortmund.
Zentrale des Dortmunder Energieversorgers DEW21 © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Doch wer einen schnellen Prozess erwartet hatte, irrt. Der Richter wird sich skeptisch zeigen angesichts der Beweislage der DEW21 und immer wieder verwundert darüber, wie es bei dem kleinen Energieanbieter mit gerade einmal zehn Mitarbeitern zuging. Die Verhandlung gibt Einblick in ein System, in dem offenbar nicht so genau hingeschaut wurde – und wirft erneut kein gutes Bild auf die Dortmunder Stadtwerke.

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Mit fast 30 Minuten Verspätung beginnt der Prozess. Die Vorbereitung habe länger gedauert als normal angesichts der ausführlichen Schriftsätze, erklärt der Richter. Auf mehreren Hundert Seiten haben beide Seiten ihre Argumente inzwischen dargelegt. Der Richter versucht es zunächst salomonisch: Das Arbeitsgericht entscheide nicht über die Betrugsvorwürfe, das obliege der Staatsanwaltschaft. Das Gericht halte eine gütliche Einigung für eine gute Lösung.

Doch davon wollen beide Seiten nichts wissen. Die Anwälte des Unternehmens zeigen sich überzeugt, in M. den Schuldigen für die Stadtenergie-Misere gefunden zu haben. Und M. fühlt sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Sein Mandant sei verleumdet worden, sagt sein Anwalt. Der bisher erweckte Eindruck, M. sei der alleinige Täter, sei falsch. Es gebe mehrere Schuldige. Der eigentliche „Drahtzieher“ sei ein anderer Mitarbeiter. Damit ist der Ton gesetzt.

Schlechter Stil und Bilanzmanipulation

Die Anwälte der DEW21 haben einen ganzen Reigen an Vorwürfen zusammengestellt. Im Februar hatten sie M. zunächst ordentlich gekündigt; als sich die Vorwürfe erhärteten, im Juli fristlos. Im Kern werfen sie ihm vier Verfehlungen vor.

M. soll die Bilanzen der Stadtenergie manipuliert haben, indem er falsche Zahlen an die Konzernmutter DEW21 übermittelte. M. und sein Team hätten, so berichteten es die Anwälte der DEW21, die Zahlen aus dem IT-System übertragen in Exceltabellen, die dann im Konzern ausgewertet wurden. In die Tabellen habe M. falsche Zahlen eingetragen, so habe er beispielsweise bei den Schätzungen für den künftigen Verbrauch zu hohe Werte übermittelt. Das habe die Geschäftszahlen besser aussehen lassen als sie waren.

Landesbehördenhaus
Arbeitsgericht im Landesbehördenhaus in Dortmund Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

M. soll mit einem Pool-Dienstwagen gegen die Vorschriften 4000 Kilometer privat und sogar bis nach Holland gefahren sein. Allerdings bleibt unklar, ob es in dem Start-up überhaupt eine gültige Vorschrift zu Dienstwagen gab. Zudem behauptet M., er habe in Amsterdam einen beruflichen Kontakt getroffen. Und während einer weiteren Fahrt, bei dem eine Frau geblitzt wurde, seien er und seine Lebensgefährtin in Thailand im Urlaub gewesen.

M. soll außerdem mit seinem Führungsstil angeeckt sein. Mehrere Mitarbeiter hätten deswegen gekündigt. Andere seien eingeschüchtert gewesen und hätten sich erst getraut, offen zu reden, als M. nicht mehr da war, so berichten es die Anwälte der DEW21. Allerdings räumten sie ein, dass M. niemals eine Abmahnung bekommen habe. Der Anwalt des Managers erklärte zudem, M. habe für das Jahr 2022 sogar einen Bonus von 24.000 Euro erhalten, obwohl eigentlich nur 20.000 Euro vereinbart waren. Offensichtlich sei man zufrieden gewesen mit dem Manager.

Heimliche Preiserhöhung für 9000 Kunden

Es dauert lange, bis das Gericht zum Kern vorstößt: dem mutmaßlichen Betrug. Demnach soll M. in den Wirren der Energiekrise mehrfach die Preise für die Kunden manipuliert haben. Die DEW21 habe, so berichten es die Anwälte des Konzerns, damals ziemlich deutlich damit gedroht, das „Experiment Stadtenergie“ zu beenden und das Start-up zu schließen. M. wollte mit den Manipulationen offenbar die Geschäftszahlen und damit die Firma retten.

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Glaubt man den DEW-Anwälten, verstieg sich M. deswegen immer tiefer in Manipulationen. Der Manager soll für 30.000 Gaskunden rückwirkend bei jeder Kilowattstunde 1,4 Cent Umlage aufgeschlagen haben. Als die Mehrwertsteuer auf Gas von 19 auf 7 Prozent gesenkt wurde, soll er zwar den Steuersatz im System geändert haben, aber nicht den notwendigen zweiten Schritt gemacht haben: die im System des Unternehmens zwingende Anpassung der Preise.

Am schlimmsten traf es aber ab Oktober 2022 die Altkunden, die bereits früh einen Vertrag bei Stadtenergie abgeschlossen hatten. Sie zahlten relativ wenig für Gas, das Stadtenergie nun teuer einkaufen musste. M. habe damals einen Mitarbeiter beauftragt, eine Liste mit Kunden zu erstellen, die „unter Wasser“ seien, also die Stadtenergie viel Geld kosteten. Für diese habe er dann heimlich den Preis von 9 auf 42 Cent pro Kilowattstunde erhöht. So werfen es die DEW21-Anwälte ihm vor.

Prozess Stadtenergie
Verhandlungssaal des Arbeitsgerichts Dortmund © Oliver Hollenstein | Oliver Hollenstein

Damit die massive Preiserhöhung nicht aufflog, soll M. im Kundenportal die Preisanzeige für diese Kunden deaktiviert haben. „Ihr Preis wird gerade neu ermittelt“, sei stattdessen angezeigt worden. Außerdem soll er DEW21-Mitarbeiter und Freunde von der Maßnahme ausgeschlossen haben, damit die Sache nicht auffiel. Auch soll er Mitarbeiter angewiesen haben, keine Endabrechnung an diese Kunden zu schicken, damit der Schwindel vor den Wirtschaftsprüfern verborgen bleibt.

Der Richter bleibt skeptisch

M., weiße Sneaker, dunkler Rollkragenpulli, dunkles Jackett, schweigt die meiste Zeit. Immer wieder schüttelt er den Kopf. Auf Fragen bestreitet er einzelne Vorwürfe oder erklärt, er habe das mit der Geschäftsführung abgestimmt.

„Ist das nicht komisch, dass ein Arbeitnehmer, der nicht Geschäftsführer ist, so etwas schafft?“

Der Richter am Arbeitsgericht

Aber auch der Richter zeigt sich wiederholt deutlich überrascht über die Vorgänge bei dem kleinen Start-up. „Ist das nicht komisch, dass ein Arbeitnehmer, der nicht Geschäftsführer ist, so etwas schafft?“, fragte er die DEW21-Anwälte. „Warum geht das nicht über den Tisch der Geschäftsführung?“ Und: „Warum geht da keiner zum Geschäftsführer?“

Es ist das große Rätsel dieses Falls. Die beiden Geschäftsführer der Stadtenergie, im Hauptjob im Vertrieb der DEW21 beschäftigt, blieben offenbar völlig außen vor. In den Zahlen seien sie nicht tief drin gewesen, vom Frust der Mitarbeiter hätten sie nichts mitbekommen.

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Aus Sicht der DEW21-Anwälte ist die Sache so: M. habe alles kontrolliert, was nach außen ging. Jede Präsentation, jeder Social-Media-Post sei von M. abgesegnet worden. Die Geschäftsführung habe keine Chance gehabt, von den Vorgängen zu erfahren. Und die Mitarbeiter hätten sich schlicht nicht getraut, ihre Erlebnisse an M. vorbei nach oben zu melden. Sie hätten sich erst offenbart, nachdem die Anwälte ihnen versprochen hätten, dass M. das Unternehmen nie wieder betritt.

Auch hier schüttelt M. mehrfach sichtbar den Kopf.

20 Millionen Euro an den Staat

Vor Ende der Verhandlung versucht es der Richter noch einmal: Stadtenergie solle doch bis Ende August das Gehalt weiterzahlen und die Hälfte des Bonus – und dann sei die Sache arbeitsrechtlich geklärt, schlägt er vor. Alles andere müssten Strafgerichte klären. Doch wieder lehnen beide Seiten ab.

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Für die DEW21-Anwälte ist die Sache klar: Fast 25 Millionen Euro musste das Unternehmen an ihre düpierten Kunden zurücküberweisen. Einen weiteren großen Teil der damals fingierten hohen Preise zahlten aber nicht die Kunden, sondern die Steuerzahler. Da die Gaspreisbremse die Kosten für die Verbraucher deckelte, übernahm der Staat die Mehrkosten. Deswegen muss Stadtenergie auch 20 Millionen Euro an den Staat zurückzahlen, erklärten die Anwälte des Unternehmens.

Prozess Stadtenergie
M. auf dem Gerichtsflur © Oliver Hollenstein

Für M. und seinen Anwalt scheint die Sache aber auch klar: Der Manager hat alles getan, um das Unternehmen zu retten. Und soll nun der Sündenbock werden.

Das Arbeitsgericht kündigte an, den Fall nun abschließend zu beraten und dann ein Urteil zu verkünden. Wann das sein würde, konnte das Gericht noch nicht sagen. Anschließend werden sich die Beteiligten aber wahrscheinlich noch vor weiteren Gerichten sehen.