Dortmund. Panik, Fehlkäufe, Millionenschäden zu Lasten der Kunden: Chronik eines multiplen Organversagens bei DEW21. Und das will niemand bemerkt haben?
Am Ende werden Gerichte entscheiden. Doch schon jetzt ist klar, dass dieser Fall keine Gewinner kennt, sondern nur Verlierer. Seit Monaten erschüttert ein Mehrfachskandal die Dortmunder Stadtwerke: Ihre Energietochter DEW21 verlor wegen Fehleinschätzungen in der Energiekrise viele Millionen. Bei deren Ökostromtochter Stadtenergie sollen Abrechnungen manipuliert und Zehntausenden Kunden zu viel Geld abgebucht worden sein. Und nicht zuletzt sollen Geldströme vertuscht, Bilanzen aufgehübscht und zuständige Gremien nicht rechtzeitig informiert worden sein.
Die Folgen: Im vergangenen Jahr verbuchten die Stadtwerke (DSW21) 45 Millionen Euro Verlust. Grund sind die Skandale ihrer Energietöchter DEW21 und Stadtenergie. Als Gesamtschaden wird eine noch viel höhere Summe erwartet. Die Dortmunder Stadtwerke schütten deswegen dieses Jahr keine Dividende aus, die Millionen fehlen der Stadt im Haushalt. Die oberste Stadtwerke-Chefin Heike Heim wurde fristlos entlassen. Ein Mitarbeiter der Stadtenergie wurde geschasst, die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Jetzt beginnt die politische Aufklärung des Dortmunder Stadtwerke-Skandals
Am Donnerstag (19.9.) beginnt im Finanz- und Beteiligungsausschuss des Dortmunder Stadtrats die politische Aufklärung der Affäre – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dort werden mutmaßlich unangenehme Fragen besprochen. Denn die Probleme bei den Stadtwerken sind bei weitem nicht gelöst. Diese Redaktion hat in den vergangenen Wochen versucht, die Vorgänge zu rekonstruieren und mit zahlreichen Verantwortlichen und Insidern gesprochen. Sie alle, auch hochrangige Manager der Stadtwerke, sprechen nur anonym. Das Thema ist brisant, jeder kann auch seine eigene Karriere gefährden.
Die Aufklärung wird noch Monate dauern, deswegen wird auch dieser Text nicht alle offenen Fragen beantworten. Aber eines ist bereits jetzt offensichtlich: Die Sache geht viel tiefer als das kommunale Unternehmen zugeben möchte, es gab folgenschwere Fehler auf vielen Ebenen, für die sowohl die Stadtwerke-Kunden als auch die Bürgerinnen und Bürger zahlen müssen. Wer sich die DEW21 genauer anschaut, dem begegnet ein politisch durchsetztes Unternehmen mit vielen internen Konflikten, seltsam passiven Topmanagern und einem offenbar heillos überforderten Aufsichtsrat unter dem Vorsitz des Dortmunder Oberbürgermeisters. Dies ist die Chronologie eines Multiorganversagens.
Dienstag, 2. Juli 2024
Nach nur 397 Tagen ist Schluss für Heike Heim. Der Aufsichtsrat der Dortmunder Stadtwerke beauftragt Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD), einen Aufhebungsvertrag mit ihr auszuhandeln. Das Vertrauen in die Chefin der Stadtwerke sei gestört, eine Zusammenarbeit nicht mehr möglich. Nur eine Woche später beschließt der Aufsichtsrat in einer Sondersitzung, Heim sogar fristlos zu entlassen. Ein Jahr, nachdem er sie zur Chefin gemacht hat.
Was ist passiert in der „21-Familie”, wie die Marketingstrategen ihre Stadtwerke gern nennen?
Mit 4000 Mitarbeitern und 1,6 Milliarden Euro Jahresumsatz sind die Stadtwerke eine Macht in Dortmund. Strom, Fernwärme, Gas, Internet, Kabelfernsehen, Nahverkehr, Wohnungen, in halb Deutschland verteilte Windparks, der Hafen, der Flughafen, diverse Stadtentwicklungsprojekte – ein buntes Konglomerat versteckt sich hinter dem Kürzel DSW21. In guten Jahren ermöglichen Gewinne im dreistelligen Millionenbereich der Stadt wichtige Investitionen, etwa in den Nahverkehr. In schlechten Jahren fehlt dieses Geld.
Entsprechend mächtig ist auch der Konzernchef. Zugleich ist sein Job hochpolitisch. Fast 17 Jahre herrschte Guntram Pehlke über die Stadtwerke. Der SPD-Mann galt und gilt als einer der einflussreichsten Strippenzieher der Stadt. Im Jahr 2022 verdiente er allein bei DSW 570.000 Euro, heißt es im Vergütungsbericht der Stadt – mehr als das Doppelte des Oberbürgermeisters. Fast alles, was im Konzern passiert, ist ein Politikum, im Aufsichtsrat sitzen neben den Arbeitnehmervertretern die Parteien aus dem Rat, die Besetzung von Managerposten werden parteipolitisch austariert.
Anders als in anderen Städten ist die Klüngelei um Spitzenpositionen in der städtischen Wirtschaft in Dortmund allerdings kein Geheimnis. Als Pehlke 2023 in den Ruhestand ging, machten SPD und Grüne ihren Deal sogar in einer Pressemitteilung öffentlich. Man habe sich auf „ein gemeinsames Vorgehen bei den wichtigen Personalentscheidungen für die kommunalen Unternehmen” geeinigt, teilten sie mit. „In diesem März soll Heike Heim auf Wunsch der SPD zur Vorstandsvorsitzenden der DSW21 gewählt werden. Der dann frei werdende Vorsitz der Geschäftsführung bei DEW21 soll federführend von Bündnis 90/Die Grünen ausgewählt werden.“
Postengeklüngelei – in Dortmund per Pressemitteilung offen verkündet
Bei ihrer Wahl waren die Lobeshymnen groß auf Heike Heim. „Ich freue mich sehr darüber“, sagte Dortmunds SPD-Oberbürgermeister Thomas Westphal. „In der kommunalen Familie sind Zuverlässigkeit für die Bürgerinnen und Bürger, Nachhaltigkeit und Innovation wichtige Faktoren für Akzeptanz und für den wirtschaftlichen Erfolg. Heike Heims erfolgreiches unternehmerisches Handeln war stets daran ausgerichtet und wird es auch in Zukunft sein.“
Keine 15 Monate später wird Westphal als Aufsichtsratsvorsitzender der DSW21 Heim fristlos entlassen. Wegen mutmaßlicher Verfehlungen, die sie sich nicht als Chefin von DSW21 geleistet haben soll, sondern vorher als Chefin des städtischen Energieversorgers DEW21. Dessen Chefkontrolleur ist freilich bis heute ebenfalls Westphal. Warum hat er seinerzeit scheinbar übersehen, was ihn jetzt zur Kündigung seiner Wunschkandidatin veranlasste? Wie konnte es so weit kommen?
Montag, 3. Juli 2017
Sieben Jahre vor ihrem Rausschmiss ist der Oberbürgermeister zu Heike Heims Einstand bei DEW21 gekommen. Er heißt damals noch Ullrich Sierau (SPD) und kann sich vor lokalen Pressevertretern eine Spitze gegen ihren Vorgänger nicht verkneifen. „Sie muss nach innen strukturieren und nach außen kooperieren“, erklärt Sierau Heims Aufgabe und ergänzt: „Sie wird auch die Zahlen nicht dem Zufall überlassen, wie wir das hier auch schon erlebt haben.” So berichten es damals die Dortmunder Nordstadtblogger.
Für Heim, damals 46 Jahre alt, ist es ein Karrieresprung. Vier Jahre war sie zuletzt Chefin der Energieversorgung Offenbach: 540 Mitarbeiter, 375 Millionen Euro Umsatz. Bei dem wichtigsten Unternehmen im Dortmunder Stadtwerke-Reich, dem Energieversorger DEW21, trägt sie die Verantwortung für 1100 Mitarbeiter und 850 Millionen Euro Umsatz.
Heims Vorgänger stürzte über Vorgang beim BVB
In Dortmund war ihr Vorgänger Frank Brinkmann in Ungnade gefallen. Während er schon länger im Clinch mit dem mächtigen DSW-Chef Pehlke lag, ereignete sich etwas, das man in Dortmund als Konzernchef nicht überlebt, so berichten es Insider. Im Stadion des BVB stehen damals zahlreiche einflussreiche Dortmunder Männer auf der Tribüne, als durchgesagt wird, dass das Stadion nun mit Yello Strom betrieben werde. Die Konkurrenz bei Borussia, nicht DEW21 – wie konnte das sein? Wenige Monate später wurde Brinkmanns Vertrag vorzeitig aufgelöst.
Ein Headhunter stellte dem Aufsichtsrat eine ganze Reihe möglicher Nachfolger vor, darunter Heike Heim. Die Auswahlkommission mit Pehlke und dem damaligen Oberbürgermeister war sehr angetan von Heim. Als Ingenieurin für Elektrotechnik mit langjähriger Führungserfahrung in der Energiebranche schien sie die perfekte Lösung. Auch betriebswirtschaftlich sei ihre Präsentation sehr überzeugend gewesen, sagt jemand, der damals dabei war. Sierau ließ die letzte Runde des Bewerbungsverfahrens ausfallen, um Heim gleich zu berufen.
Nach innen strukturieren, diese Aufgabe nimmt Heim ernst – und geht dabei offenbar nicht zimperlich vor, das eint die Berichte von Menschen, die sie schätzen und solchen, die das eher nicht tun. Ansonsten trennen sich die Geschichten über Heim in zwei Lager. Die einen loben sie dafür, dass sie frischen Wind ins Unternehmen brachte, die gelähmten Strukturen an vielen Stellen aufbrach, sich auch mit den Mächtigen anlegte und nicht jedem gefallen wollte. Die anderen erzählen von einer kalten Kompromisslosigkeit, Misstrauen gegenüber alteingesessenen Mitarbeitern, einem bisweilen rauen Umgangston, sogar von einer „Atmosphäre der Angst“, die sie geschaffen habe.
Zwei Dinge kann man aus den Geschichten als Gemeinsamkeit heraushören: Zum einen herrscht bei DEW21 offenbar eine toxische Unternehmenskultur, in der auch Führungskräfte Angst haben, Fehler zuzugeben. Die Geschichten unterscheiden sich nur darin, ob die beschriebene Angstkultur unter Heim besser oder noch schlimmer geworden ist.
Zum anderen prallen damals offenbar Welten aufeinander. Heim, eine Managerin mit großen Ambitionen, noch größerem Selbstvertrauen und einem Hang zu hartem Klartext, trifft bei DEW21 auf ein Unternehmen, das eher einer Behörde glich und in dem sich so mancher wünschte, alles möge bleiben wie es ist.
Mittwoch, 2. September 2020
„Zwei Originale. Eine Energie. #VolleLadungDortmund”: Mit einer großen Marketingkampagne wetzt Heim die Scharte ihres Vorgängers aus. DEW21 kickt Yello Strom als BVB-Partner aus der Stadt. Für Borussia-Fans gibt es „BVB Vollstrom“ und „BVB Vollgas“. Das streichelt die Dortmunder Seele.
Doch Heim will nicht nur Dortmund erobern. Mit gerade einmal fünf Mitarbeitern startet ebenfalls im September 2020 das Start-up Stadtenergie am Markt. Heim will mit einem eigenen Ökostromanbieter glänzen, für die Dortmunder Stadtwerke deutschlandweit Kunden gewinnen und gleichzeitig den Gesamtkonzern für die Zukunft aufstellen. Von einem digitalen Schnellboot als Innovationsschmiede ist die Rede, das neue IT-Lösungen ausprobiert, Kunden rein digital verwaltet, modern auftritt.
Unter dem Hashtag #gönndirwatt startet Stadtenergie bunte Kampagnen in den sozialen Medien. Als Geschäftsführer setzt Heim auf einen alten Vertrauten, den sie aus Offenburg mitgebracht und zum Vertriebschef der DEW21 gemacht hat. Der zweite Geschäftsführer ist branchenfremd, ein Marketingexperte, der sich auf LinkedIn gerne als „Keynotespeaker“ inszeniert.
Die Ökotochter baut DEW offenbar als Dumpinganbieter auf
Hinter den wolkigen Formulierungen aus dem Digitalisierungsberaterhandbuch steckt ein Geschäftsmodell, bei dem für Experten klar ist: Es kann nur durch schnelles, aggressives Wachstum und Billigpreise funktionieren. Die DEW21 baut offenbar einen Dumpinganbieter für Strom und Gas, der mit offensivem Marketing und Tiefstpreisen auf Vergleichsportalen wie Check24 und Verivox über Nacht neue Kunden auf Schnäppchensuche erschließen soll.
Bevor dieses Modell Gewinn abwerfen kann, kostet es erst einmal viele Jahre Geld, um Kampfpreise und Marketing zu finanzieren. Einen zweistelligen Millionenbetrag genehmigt der DEW21-Aufsichtsrat als Starthilfe. Detaillierter prüft das Gremium die Idee offenbar nicht. Auch, dass Heim in Offenbach eine ähnliche Idee hatte, die nach ihrem Weggang schnell beerdigt wurde, ist im Aufsichtsrat kein Thema.
Zunächst geht der Plan auf: Wenige Monate nach dem Start rühmt sich das Start-up einer fünfstelligen Kundenzahl, im Jahresabschluss 2021 ist bereits von mehr als 50.000 Kunden die Rede. Doch während sich DEW21 und Stadtenergie nach außen als erfolgreich präsentieren, beginnen intern die Probleme.
Freitag, 18. Februar 2022
Wenige Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine kommen die wichtigsten Manager von DEW21 im Risiko-Komitee zusammen. Die Stimmung ist getrübt. Noch ahnt niemand, dass der Krieg die Energiekrise bald zuspitzen wird. Aber bei DEW21 herrscht schon jetzt Vollalarm. Das Team um Heim zieht die Notbremse: Der Großteil des Energiehandels wird für vier Wochen ausgesetzt. Ziel: Den Überblick gewinnen, das interne Chaos lichten. Was ist los?
Seit Monaten schon läuft bei DEW21 vieles nicht mehr so, wie es soll. Schon im Herbst 2021 sind in Deutschland die Großhandelspreise für Strom und Gas rasant gestiegen. Eigentlich für Stadtwerke kein großes Problem, sie gehören zu den vorsichtigen Akteuren am Energiemarkt.
Rollierendes Beschaffungssystem der DEW21 sollte weniger anfällig für Krisen sein
Die für die Kunden benötigten Mengen an Strom und Gas werden mit langen Vorlaufzeiten beschafft. Für Industriekunden meist schon am Tag des Vertragsabschlusses, back-to-back nennen das die Experten. Für die Privatkunden wird die Energie so eingekauft, dass weder Kunden noch Unternehmen ein großes Preisrisiko haben, die Fachleute sprechen von rollierend.
Einfach erklärt läuft das bei DEW21 damals so: Auf Basis der bestehenden Verträge und Verbräuche prognostiziert das Unternehmen, wie viel Energie es in 3,5 Jahren benötigen wird. Diese Menge wird in 36 Tranchen aufgeteilt, die erste 3,5 Jahre im Voraus gekauft, die letzte ein halbes Jahr vor dem Verbrauch. Mit diesem „rollierende System“ kauft man insgesamt immer zum Durchschnittspreis der vergangenen Jahre.
Doch das System funktioniert nur, wenn die Prognosen stimmen – also am Ende etwa so viel Strom verbraucht wird, wie man vorher erwartet hat. Und das funktioniert bei DEW21 augenscheinlich nicht mehr: Es wird mehr Energie verbraucht als gedacht. Hinzu kommen plötzlich Tausende Neukunden, die von insolventen, aufgelösten und über Nacht sehr teuer gewordenen Billiganbietern zu den Stadtwerken flüchten. Grundversorger wie DEW21 sind verpflichtet, sie aufzunehmen. Jeden Tag muss DEW21 nun Strom und Gas teuer nachkaufen, es entstehen Millionenverluste.
Die Daten passen nicht mehr: In den DEW21-Abteilungen bricht Panik aus
In den beteiligten Abteilungen macht sich, so erzählen es Insider heute, Panik breit. Draußen steigen die Preise immer weiter, intern hätten die Führungskräfte festgestellt, dass die eigenen Daten nicht zuverlässig sind. Wie viele Kunden man hat, wie viel Energie diese wohl benötigen werden, welche Mengen schon beschafft wurden, darüber habe völlige Verwirrung geherrscht. „Wir waren im totalen Blindflug”, sagt einer, der damals dabei war.
Die IT-Systeme, die Risikovorgaben, die Kommunikation von Vertrieb und Handel – nichts habe so funktioniert wie es soll. Zum ungünstigsten Zeitpunkt. In höchster Not mitten in der größten Energiekrise seit Jahrzehnten beschließt DEW21 im Frühjahr 2022 eine neue Beschaffungsstrategie. Drei Maßnahmen sind zentral:
- Statt einmal im Monat rollierend Energie zu beschaffen, wird nun einmal wöchentlich eingekauft – immer dienstags. Die häufigeren Einkäufe niedrigerer Tranchen sollen weniger anfällig für Preisspitzen sein.
- Um nicht wieder zu wenig Strom und Gas einzukaufen, wird für die Wintermonate November bis Februar in den kommenden beiden Jahren zehn Prozent mehr Energie geordert als für den Kundenbedarf prognostiziert ist. Dieser Risikopuffer ist für den Fall gedacht, dass weitere Energieversorger ausfallen und noch mehr Kunden in die Grundversorgung flüchten.
- Die hohen Kosten für diesen Puffer finanzieren sollen die Kunden. Sie sollen einen Risikoaufschlag zahlen, Strom und Gas wird für sie also teurer.
Es sind Vorsichtsmaßnahmen, damit niemand in Dortmund im Winter ohne Gas oder Strom dasteht. Mit immensem Risiko: Wird der Winter mild und kommen die Preise ins Rutschen, dann kauft man nun zu teuer ein – und ärgert damit auch noch seine Kunden.
Wer heute, mehr als zwei Jahre später, mit Händlern anderer Stadtwerke über diese Zeit redet, hört oft den Begriff Chaos. Kritisch auslassen über die Dortmunder mag sich keiner. Viele, so gewinnt man den Eindruck, sind froh, dass die eigenen Maßnahmen nicht so durchleuchtet werden wie nun die der DEW21-Kollegen.
Probleme hatten viele Stadtwerke, aber die Probleme in Dortmund gehen tiefer
Der Markt habe verrückt gespielt, teilweise seien die Preise auf das Vierzehnfache gestiegen, an einigen Tagen seien die Handelsbildschirme auch ganz leer geblieben, erzählen Händler. Niemand traute sich mehr, irgendetwas zu kaufen oder zu verkaufen. Und weil niemand mehr den anderen vertraute, verlangten alle massive Risikorücklagen. Zahlreiche Stadtwerke brauchten deswegen Kredite oder Bürgschaften von ihren Eignern, auch DEW21.
Doch in Dortmund gehen die Probleme tiefer, weil es bereits vor der Krise massive Abstimmungsprobleme der verschiedenen Abteilungen und große Lücken im seit Jahren nicht angepassten Risikomanagement der DEW21 gibt.
Immer wieder seien ad hoc große Mengen Energie eingekauft worden, weil jemand glaubte, zu wenig beschafft zu haben – manchmal sei Tage später aufgefallen, dass das überflüssig war, erinnert sich jemand, der das Geschehen damals kopfschüttelnd mitbekam. Heute belasten diese Fehleinkäufe das Unternehmen massiv, weil gemäß den Vorgaben der rollierenden Beschaffung schon Energie für in drei Jahren zu sehr hohen Preisen eingekauft wurde, die nun gar nicht benötigt wird.
Panikkauf versenkt zweistelligen Millionenbetrag an nur einem Tag
Besonders teuer wird der 23. August 2022: Es kommen Zweifel auf, ob für den Winter genug Gas gekauft wurde, um die Fernwärme in Dortmund sicherzustellen. Nach den eigenen Vorgaben hätte das Gas schon vor sechs Monaten gekauft worden sein müssen, aber man ist nicht sicher, ob das passiert ist. Nun drängt die Zeit, der Winter naht. Am Ende wird der zuständige Händler vom damaligen Handelschef per Mail mit Kopie an Heim angewiesen, 100 Gigawattstunden Gas einzukaufen. Ein einziges Geschäft, das DEW21 einen zweistelligen Millionenverlust einbringen wird.
Mittwoch, 16. November 2022
„Hier wird viel Negatives geschrieben”, schreibt ein User namens Ingo auf der Plattform Trustpilot. „Leider stimmt es bei der Stadtenergie.” Er ist einer von Hunderten Menschen, die sich im Netz über das Start-up beschweren. Der Service sei eine Katastrophe, Abrechnungen stimmten nicht, die Hotline sei überfordert.
Für das kleine Start-up mit nur zehn Mitarbeitern ist das alles kaum händelbar. Der eigenen Ökotochter widerfährt das gleiche, was mehrere Konkurrenten bereits in die Knie gezwungen hat. Die Mutter DEW21 kann das nicht überraschen, sie musste ja bereits Tausende Kunden strauchelnder Billiganbieter aufnehmen und leidet darunter.
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Es läuft nicht gut bei Stadtenergie, trotz des massiven Wachstums. Folgt man dem Verdacht der Dortmunder Staatsanwaltschaft, fängt deswegen ein Leitender Angestellter im Herbst 2022 damit an, Rechnungen zu fälschen. Er soll Entlastungen wie die Mehrwertsteuersenkung auf Gas nicht oder erst Monate später bei den Abrechnungen der Kunden berücksichtigt haben. Auch als später die Einkaufspreise sinken, soll er dies nicht an die Kunden weitergegeben haben.
Ökotochter berechnete ihren Kundinnen und Kunden 36 Millionen Euro zu viel
Abrechnungen von etwa 30.000 der knapp 50.000 Stadtenergie-Kunden sollen betroffen sein. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft geht es um einen Schaden von 36 Millionen Euro. Aus DEW21-Kreisen heißt es, viele der Kunden hätten gar nicht geschädigt werden sollen. Ziel sei es angeblich gewesen, die falschen Zahlungen mit der Abschlussrechnung zu korrigieren. Es sei nur darum gegangen, kurzfristig die Zahlen des kriselnden Start-ups aufzubessern.
Davon geht heute auch die Staatsanwaltschaft aus: Der Leitende Angestellte habe die „Umsatz- und Ertragslage des Unternehmens positiver darstellen wollen, um seiner Karriere Vorschub zu leisten.” Die Staatsanwaltschaft hat vor einigen Wochen seine Wohnung und sein Auto durchsuchen lassen und Datenträger sichergestellt. Der Mann selbst äußerte sich auf Anfrage dieser Zeitung nicht.
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Damals auf dem Gipfel der Krise soll sich auch ein zweiter Vorfall ereignet haben, der bei DEW21 inzwischen von den Wirtschaftsprüfern und Juristen genauer betrachtet wird: Im Winter 2022 wurden große Energiemengen zwischen Stadtenergie und DEW21 hin- und hergetauscht. Die angebliche Folge dieses sogenannten Swap-Geschäfts: Die Bilanzen von Stadtenergie sollen aufgehübscht, mehrere Millionen Euro Belastung ins Mutterunternehmen verlagert worden sein.
Heim und die Stadtenergie-Geschäftsführer äußern sich dazu nicht. Heim lässt ihre Medienanwältin allgemein mitteilen, ihre Mandantin habe „ihre Tätigkeit jederzeit in Einklang mit Recht und Gesetz ausgeübt und sich rechtlich einwandfrei verhalten”.
Stadtwerke zweifeln selbst, ob ihre Chance vor Gericht gegen Heim gut stehen
Für Heike Heim geht es heute um viel: um ihren Ruf und ihre Karriere. Bei DSW rechnet man damit, dass sie sich juristisch gegen ihre Kündigung wehren wird – und auf eine hohe Abfindung pocht. Gleichzeitig hoffen die Stadtwerke auf Schadensersatz von Heims Manager-Haftpflicht. In den kommenden Monaten wird die Sache wohl vor Gericht landen. Dass die Chancen für DSW21 dabei richtig gut stehen, daran gibt es sogar im Unternehmen größere Zweifel.
Alle im Raum stehenden Vorwürfe beziehen sich auf Heims Zeit bei DEW21 – und waren abgeschlossen, als sie zur obersten Stadtwerke-Chefin gekürt wurde. Dass sie trotz der angeblich großen Verfehlungen befördert wurde, spricht nicht für eine sonderlich gute Prüfung vor der Beförderung.
Donnerstag, 1. Juni 2023
Der alte Hausausweis sei abgegeben, der neue abgeholt, sie freue sich auf viel Spannendes und Neues, schreibt Heike Heim auf der Karriere-Plattform LinkedIn. Mit ihrem neuen Job bei DSW21 beginnt Heim, sich auch öffentlich stärker zu inszenieren. Es wird noch einige Monate dauern, bis Heim von ihrer Zeit bei DEW21 eingeholt werden wird.
Wieso dauerte es so lange, bis das angebliche Missmanagement auffiel?
Wer mit DEW21-Managern spricht, bekommt eine Ahnung: Ein wesentlicher Grund war offenbar, dass für DEW21 das Geschäftsjahr 2022 trotz der Beschaffungsprobleme unter dem Strich noch hervorragend lief. Der Gewinn vor Steuern lag mit 72 Millionen Euro deutlich über den Vorjahren. Dafür gab es zwei wesentlichen Ursachen: Zum einen war ein Teil des Risikopuffers mit guten Gewinnen verkauft worden, als man im Sommer merkte, der Markt erholt sich etwas. Zum anderen spülten die neuen Risikoprämien der Kunden zusätzliches Geld in die Kasse.
Schlechte Einkaufspolitik ließ die Preise steigen und vertrieb viele Kunden
Doch der Bumerang war schon auf dem Rückweg: Die Risikoprämien, so heißt es heute aus Unternehmenskreisen, hätten sich ab 2023 negativ bemerkbar gemacht, genauso wie die schlechte Einkaufspolitik. Weil sich der Preis für die Kunden immer an der Beschaffung der vergangenen drei Jahre orientiere, seien die teuren Einkaufspreise aus der Energiekrise und die zahlreichen Fehleinkäufe im Laufe des Jahres 2023 immer stärker auf die Kundenpreise durchgeschlagen.
Die DEW21-Preise seien deswegen teilweise doppelt so hoch gewesen wie bei der Konkurrenz, heißt es. Die Folge: eine massive Kündigungswelle. Heims Nachfolger bei DEW21, Gerhard Holtmeier, entschied daher im Herbst 2023, die Risikoprämien massiv zu kürzen – und mit neuen, günstigeren Tarifen weit unterhalb der Einkaufspreise neue Kunden zu locken.
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Nun steht bei den Stadtwerken ein Jahresverlust von 45 Millionen Euro, allein den Schaden durch den Abrechnungsskandal bei Stadtenergie beziffert DSW auf 74 Millionen Euro. DEW21 hat seine Bilanz für 2023 immer noch nicht vorgelegt. Klar ist aber: Die Zahlen werden nicht gut sein, weswegen der Aufsichtsrat der DSW21 die Wirtschaftsprüfer von PWC im Frühjahr mit einer Sonderprüfung der Geschäftslage beauftragt hat. Es ist ein Gutachten, das nicht nur Antworten gibt, sondern auch neue Fragen aufwirft.
Montag, 1. Juli 2024
43 Folien Power-Point-Präsentation stellen die Wirtschaftsprüfer erst dem Aufsichtsrat der DEW21 vor, einen Tag später dann beim Mutterkonzern DSW21. Kernsatz der Analyse: „DEW21 hat in der Energiemarktkrise 2022 die Beschaffungsstrategie verlassen. Damalige Handelsentscheidungen führen i.W. zu den Ergebnisbelastungen.”
Am 2. Juli beschließt der DSW21-Aufsichtsrat Konsequenzen aus diesem Gutachten: Heike Heim wird freigestellt. Der Schaden allein durch die Beschaffung sei auf 100 Millionen Euro taxiert worden, heißt es nach der Sitzung übereinstimmend von mehreren Quellen aus Stadtwerke-Kreisen. Das ist allerdings nicht einmal die halbe Wahrheit. Erstens wurde der Schaden nicht von PWC berechnet, sondern durch die DEW21 selbst – und von PWC lediglich auf Plausibilität geprüft.
Beim angeblichen 100-Millionen-Euro-Schaden rudern die Stadtwerke zurück
Zudem ist die Zusammenrechnung auf 100 Millionen Euro Schaden eine einseitige Betrachtung. So steht sogar im Gutachten, dass man 70 Millionen Euro Gewinne unter anderem aus den Risikopuffern gegenrechnen müsse. Insider räumen ein, dass in der Berechnung der Verluste zahlreiche Annahmen steckten. Es komme daher weniger auf die Zahlen an, mehr auf die Sachverhalte, heißt es inzwischen aus dem Unternehmen. Man kann das auch Zurückrudern nennen.
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Der schwerwiegendste Vorwurf gegen Heim im Gutachten lautet, sie habe in der Energiekrise ihre Geschäftsführungskollegen und den Aufsichtsrat nicht ausreichend informiert. „Im Rahmen der Analysen wurden nur teilweise Risikokomiteebeschlüsse und keine Geschäftsführungsbeschlüsse zu der Thematik vorgefunden”, schreibt PWC in der Präsentation. „Die (schriftliche) Aufsichtsratsinformation scheint wenig aussagekräftig.” Ein Alleingang Heims, von dem niemand wusste? Zweifel sind angebracht.
Dass in der Energiebranche ein Sturm tobt, war im Aufsichtsrat und erst recht den Stadtwerke-Managern bekannt. Im Frühsommer 2022 entschieden die Kontrolleure, dass es Arbeitsgruppen geben solle mit den Fachleuten von DSW, DEW21 und dem DEW21-Minderheitseigner Westenergie, um sich über Maßnahmen in der Krise auszutauschen. Auch in Geschäftsführungssitzungen war die Energiekrise wenig überraschend immer wieder Thema, sagt jemand, der die Protokolle kennt.
„Liebe Heike, eine Risikomeldung an den Aufsichtsrat ist erforderlich“
Der technische Geschäftsführer Peter Flosbach schrieb am 13. Juli 2022 sogar eine Mail an die „liebe Heike”, darin geht es um die Informationen an den Aufsichtsrat, den er AR abkürzt: „Der Handel bewegt sich außerhalb des vom AR festgelegten Rahmens. Eine Risikomeldung an AR ist meines Erachtens sinnvoll, wenn nicht gar erforderlich.”
Wieso hat Flosbach den Aufsichtsrat dann nicht selbst über seine Bedenken informiert? Er äußert sich auf Nachfrage zu dem Thema nicht. Klar ist: In der Branche galt es als offenes Geheimnis, dass Flosbach und Heim kein sonderlich gutes Verhältnis gepflegt haben.
Donnerstag, 19. September 2024
An diesem Donnerstag beginnt die politische Aufarbeitung der Affäre. Der Finanz- und Beteiligungsausschuss des Stadtrats will über die Vorgänge bei den Stadtwerken beraten. Allerdings im nichtöffentlichen Teil. Das passt zur Kommunikationsstrategie der Stadtwerke zu diesem Thema. Auch einfachste Fragen unserer Redaktion wurden in den vergangenen Wochen und Monaten nicht beantwortet, es wurde immer nur bestätigt, was bereits bekannt war.
Eine der entscheidenden Fragen in der politischen Aufarbeitung dürfte sein: Wieso haben Heims Kollegen in der Geschäftsführung und der Aufsichtsrat um Oberbürgermeister Westphal nicht mehr kritische Fragen gestellt? All das wird nun in den kommenden Monaten aufgearbeitet werden. Auch die Bilanztricks bei der Stadtenergie werden dann Thema sein. Bevor am Ende Gerichte entscheiden, werden sich noch viele Beteiligte viele unangenehme Fragen anhören müssen.