Dortmund. Der Dortmunder Energiediscounter startete ambitioniert und scheiterte mit Millionenverlust. Ist ein ehrgeiziger Manager verantwortlich?
Vor gut einem Jahr waren sie noch sehr stolz auf ihr Start-up. Zahlreiche Führungskräfte des Dortmunder Energieversorgers DEW21 likten und teilten ein Video auf der Karriereplattform LinkedIn. Darauf zu sehen der Tourbus des Berliner Rappers Sido, der inzwischen auch wieder seinen bürgerlichen Namen Paul nutzt. In einer Werkstatt wird auf dem schwarzen Bus ein Schriftzug angebracht: „Mach’s wie Paul. Gönn‘ dir Watt Grünes. Sido.“ Darunter das Logo des Ökoenergieanbieters Stadtenergie. Besonders stolz war der Manager M., der den Deal eingefädelt hatte.
Inzwischen sind sie bei der DEW21 nicht mehr ganz so stolz. Mehr als 70.000 Kunden soll das Start-up Stadtenergie betrogen haben, insgesamt kassierte das Unternehmen mit überhöhten Rechnungen fast 25 Millionen Euro zu viel. Nach monatelanger Aufarbeitung hat das Unternehmen vor einigen Wochen mit der Rückzahlung begonnen. Der Gesamtschaden für die Dortmunder Stadtwerke wird wohl weit jenseits der 50 Millionen Euro liegen.
Schuld an der ganzen Sache soll der ehemalige Manager sein, der in diesem Text kurz M. heißt. Der Mann steht im Verdacht, zehntausende Abrechnungen manipuliert zu haben, um seine Karriere zu befördern. Die Staatsanwaltschaft ermittelt und hat im Sommer bereits das Auto und die Wohnung des Mannes durchsucht. An diesem Mittwoch beschäftigt sich allerdings zunächst das Arbeitsgericht Dortmund mit dem Fall – denn der ehemalige Manager wehrt sich gegen seinen Rausschmiss.
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Der Prozess dürfte tiefe Einblicke in die missglückte Geschichte des Start-ups geben. Wer sich die Fakten anschaut, mit ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern von DEW21 und Stadtenergie spricht, der sieht: Die Historie von Stadtenergie wirft ein ungutes Licht auch auf die DEW21.
Eine Idee, die viel Geld kostet
Die Geschichte von Stadtenergie beginnt im Jahr 2020. Die damalige DEW21-Chefin Heike Heim will mit einem eigenen Ökostromanbieter glänzen, für die Dortmunder Stadtwerke deutschlandweit Kunden gewinnen und gleichzeitig den Gesamtkonzern für die Zukunft aufstellen. Von einem digitalen Schnellboot als Innovationsschmiede ist die Rede, das neue IT-Lösungen ausprobiert, Kunden rein digital verwaltet, modern auftritt.
Schon damals ist die Idee nicht unumstritten. Bis heute scheiden sich die Geister daran, ob die Idee an sich falsch war – oder ob nur die Umsetzung misslang.
- Wer das Start-up für eine schlechte Idee hielt, der betont auch heute, dass sich hinter den wolkigen Formulierungen ein aggressives Geschäftsmodell versteckt: Stadtenergie konnte nur durch schnelles Wachstum und Billigpreise funktionieren. Die DEW21 baute damals augenscheinlich einen Dumpinganbieter für Strom und Gas, der mit offensivem Marketing und Tiefstpreisen auf Vergleichsportalen wie Check24 und Verivox über Nacht neue Kunden auf Schnäppchensuche erschließen sollte.
- Wer die Idee bis heute für gut befindet, der erzählt es etwas anders. Demnach seien traditionelle Energieanbieter durch ihre großen bürokratischen Apparate und historisch gewachsenen IT-Infrastrukturen sehr teuer und sehr unbeweglich. Eine vollständige Digitalisierung der Abwicklung könnte massiv Kosten senken. Das Ziel von Stadtenergie sei es gewesen, eine neue IT-Infrastruktur zu erproben, die ein unschlagbarer Wettbewerbsvorteil sein könnte.
Ob lukrativer Dumpinganbieter oder Innovationsschmiede, klar ist bei der Gründung eins: Bevor das Modell Gewinn abwerfen kann, kostet es erst einmal viele Jahre Geld. Einen zweistelligen Millionenbetrag genehmigt der DEW21-Aufsichtsrat als Starthilfe. Detaillierter prüft das Gremium die Idee offenbar nicht. Auch, dass Heim an ihrer vorherigen Wirkungsstätte bei den Stadtwerken in Offenbach eine ähnliche Idee hatte, die nach ihrem Weggang schnell beerdigt wurde, ist im Aufsichtsrat kein Thema.
Bei der DEW21 ist man skeptisch
Zunächst wird die Idee bei DEW21 intern weiterentwickelt. Als Geschäftsführer setzt Heim zwei ihrer besten Verkäufer ein: den Vertriebschef von DEW21, ein alter Vertrauter aus Offenburg. Und ihren Leiter Privatkunden, der von einem großen Telekommunikationsanbieter zu DEW21 gewechselt ist. Auf LinkedIn inszeniert der sich als Keynote-Speaker und Buchautor.
Schon in den Diskussionen innerhalb der DEW21 gibt es unterschiedliche Meinungen. Nicht jedem gefällt die Idee eines digitalen Schnellbootes, bei dem die DEW21 als der behäbig analoge Tanker daherkommt. Zwischen den Modernisierern und den Bewahrern gibt es immer wieder Krach.
Als die ersten Mitarbeiter bei der Stadtenergie eingestellt werden, empfinden Menschen auf beiden Seiten die Fronten schon als verhärtet. Man beäugt sich skeptisch, selbst wenn man teilweise die Bedenken teilt – etwa gegen die Software, auf der das ganze Start-up aufgebaut werden soll.
Im September 2020 startet Stadtenergie unter dem Hashtag #gönndirwatt mit bunten Kampagnen in den sozialen Medien und öffnet einen Laden in Dortmund. Zunächst geht der Plan auf: Wenige Monate nach dem Start rühmt sich das Start-up einer fünfstelligen Kundenzahl.
Im Herbst 2020 startet M. seine Karriere bei Stadtenergie. Er hat vorher beim gleichen Kommunikationsanbieter wie sein Geschäftsführer gearbeitet. Er ist Fachmann für sehr offensives Marketing, die Energiebranche kennt er nicht.
Ein neuer Manager bringt Unruhe
Zu diesem Zeitpunkt hat Stadtenergie nur eine Handvoll Mitarbeiter, die dem Neuen mit großer Zurückhaltung begegnen. M. sei großspurig aufgetreten, habe so getan, als wisse er alles, habe aber viele Branchenspezifika nicht durchdrungen, erzählen Menschen, die damals dabei waren. M. selbst äußert sich auf Anfrage der WAZ nicht.
Während die beiden Geschäftsführer damals in ihren Hauptjobs bei DEW21 vollauf beschäftigt sind, übernimmt M. die Führung im Start-up. Menschlich kriselt es gewaltig in dem kleinen Team.
Geschäftlich orientiert sich das Start-up an Methoden aus der Telekommunikationsbranche. Zu den Verträgen gibt es Geschenke, Goodies, wie sie sagen. Wer Gas und Strom bei Stadtenergie bestellt, bekommt eine Geschenkkarte von Amazon, einen Staubsaugerroboter oder einen Nintendo Switch.
Doch die digitale Kundenverwaltung klappt nicht so, wie sie soll. Immer wieder hakt es, Kunden beschweren sich. Von normalen Kinderkrankheiten bei einem Start-up, sprechen Menschen, die damals dabei waren. Aber dafür habe sich M. nicht interessiert. Stattdessen habe er sich sehr um die Kundenbewertungen im Internet gesorgt. So habe er etwa Kunden anrufen lassen, die schlechte Bewertungen abgegeben haben – und sie mit Geschenken überzeugt, ihre Bewertungen zu verbessern. M. selbst äußert sich zu den Vorwürfen nicht.
Die Kunden sind unzufrieden
Im Laufe des Jahres 2021 verlassen schließlich einige der Mitarbeiter das Team, die das Start-up von Anfang an aufgebaut haben. Sie sind frustriert über M., skeptisch, ob das alles so funktionieren kann. Das Unternehmen wächst trotzdem weiter massiv, im Jahresabschluss 2021 ist bereits von mehr als 50.000 Kunden die Rede.
Doch es häufen sich auch die Beschwerden. „Fürchterlicher Kundenservice“, „Schlimm, schlimmer, Stadtenergie“, „Das reinste Chaos“, „Nie wieder“, heißt es im Jahr 2022 in Dutzenden Bewertungen auf der Plattform Trustpilot. Der Service sei eine Katastrophe, Abrechnungen stimmten nicht, die Hotline sei überfordert, heißt es immer und immer wieder.
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Für das kleine Start-up mit gerade einmal zehn Mitarbeitern ist das alles kaum händelbar. Und gleichzeitig stimmen offenbar auch die Geschäftszahlen nicht mehr. Der Verlust droht deutlich höher zu werden als im Businessplan kalkuliert. Offenbar fürchtet M. um seine Karriere. Folgt man dem Verdacht der Dortmunder Staatsanwaltschaft, fängt er deswegen an, Rechnungen zu manipulieren.
Zehntausende Rechnungen waren falsch
Es sind kleine Eingriffe, den Kunden werden pro Kilowattstunde wenige Cent zu viel berechnet. Aber das summiert sich. M. nutzt offenbar die Wirren der Energiekrise, die massiven Preisentwicklungen in Folge des Ukrainekriegs sowie die diversen politischen Maßnahmen. So soll er etwa Entlastungen wie die Mehrwertsteuersenkung auf Gas nicht oder erst Monate später bei den Abrechnungen der Kunden berücksichtigt haben. Auch Preissenkungen soll er nicht weitergegeben haben.
Solche Änderungen seien im System von Stadtenergie ziemlich leicht möglich, sagen Menschen, die das Softwaresystem von Stadtenergie kennen. Wer die benötigten Rechte und Passwörter hat, kann die Produkte mit wenigen Klicks verändern.
Offenbar treibt M. die Hoffnung, dass keiner der Kunden seine Rechnung so genau anschaut. Aus DEW21-Kreisen heißt es, viele der Kunden hätten gar nicht geschädigt werden sollen. Ziel sei es angeblich gewesen, die falschen Zahlungen mit der Abschlussrechnung zu korrigieren. Es sei nur darum gegangen, kurzfristig die Zahlen des kriselnden Start-ups aufzubessern. Davon geht heute auch die Staatsanwaltschaft aus: Der Leitende Angestellte habe die „Umsatz- und Ertragslage des Unternehmens positiver darstellen wollen, um seiner Karriere Vorschub zu leisten“, heißt es.
Start-up-Kultur mit Sneakers und Hoodies
M. will Karriere machen, so erinnern sich Vorgesetzte und Mitarbeiter gleichermaßen. Er tritt bei Branchenkonferenzen auf, inszeniert sich und Stadtenergie auf LinkedIn als Vorzeige-Start-up bis zur Klischeegrenze. Es gibt Sneaker mit Stadtenergielogo, Hoodies und Sido.
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Immer wieder prahlt M. vor seinen Mitarbeitern damit, dass ein Verwandter für Sido arbeitet und den Rapper gut kennt. Sido und Stadtenergie, das ist für ihn ein Match. Viele Mitarbeiter schmunzeln darüber. Doch dann macht M. ernst: Stadtenergie wird Kooperationspartner der Sido-Tour. Karten werden verlost, Kunden können ein Meet und Greet gewinnen.
Intern wird der Zusammenhalt zelebriert, nach außen zu DEW21 grenzt man sich ab. Man habe außer den offiziellen Reports kaum etwas gehört aus dem Start-up, heißt es aus Stadtwerke-Kreisen. Nicht einmal die Zahlen habe man prüfen können, weil die Daten eben in dem Stadtenergie-Softwaresystem kamen und dann händisch zu DEW21 übertragen wurden.
Deswegen, so heißt es von DEW21 heute, habe es auch so lange gedauert, bis der mutmaßliche Betrug aufflog. Die Unregelmäßigkeiten waren bei den Arbeiten zum Jahresabschluss 2023 aufgefallen. Anschließend hatten 20 Experten für Datenanalyse, Programmierung, Abrechnung und Wirtschaftsprüfung 1,6 Millionen Datensätze der knapp 125.000 aktiven und ehemaligen Stadtenergiekunden überprüft. Seit Ende Oktober läuft laut Angaben von DEW21 die Rückzahlung der zu viel kassierten Gelder.
Mit welchen Argumenten M. gegen seine Kündigung vorgeht, dazu äußert sich sein Anwalt nicht – auch zu den Vorwürfen nimmt er keine Stellung. Stadtenergie und DEW21 beantworten mit Verweis auf das laufende Verfahren Fragen ebenfalls nicht. Der Arbeitsgerichtprozess beginnt am Mittwoch um 10.30 Uhr.
Update: Hier lesen Sie unseren Bericht aus dem Gerichtssaal.