Dortmund. Die Dortmunder Stadtwerke werden derzeit gleich von zwei Skandalen erschüttert. Was ist da los? Ein Überblick.
Die Dortmunder Stadtwerke erleben schwere Turbulenzen: Der Energieversorger hat Millionen verloren wegen überteuerter Einkäufe in der Energiekrise, bei einer Ökoenergietochter wurden offenbar zehntausende Kunden im großen Stil betrogen. Stadtwerkechefin Heike Heim musste gehen, Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) gerät als oberster Kontrolleur unter Druck.
Was ist da los? Was weiß man über den Fall – und was ist noch offen? Diese Fragen versuchen wir hier im Überblick zu beantworten.
Diese Ausführungen beruhen auf intensiven Recherchen der WAZ, für die wir mit Dutzenden Beteiligten gesprochen und zahlreiche Dokumente eingesehen haben. Sie stellen aber nur einen Zwischenstand dar, weil die Beteiligten nicht alle unsere Fragen beantworten. Weiterhin arbeiten Ermittler und Juristen an der Aufklärung des Falles, vieles wird sich endgültig erst vor Gericht entscheiden. Möglicherweise kommen dabei auch noch ganz neue Sachverhalte ans Tageslicht.
Der Stand dieser Ausführungen ist der 5. Dezember 2024.
Was ist passiert?
Die kommunalen Dortmunder Stadtwerke DSW21 werden gleich von zwei Skandalen erschüttert. Die Konzerntochter DEW21, also der Dortmunder Energie- und Wasserversorger, soll sich in der Energiekrise 2022 beim Einkauf von Strom und Gas mächtig verkalkuliert oder sogar verzockt haben. Außerdem soll bei einer Tochter der DEW21, dem Ökoenergieanbieter Stadtenergie, ein Mitarbeiter im großen Stil Kundenrechnungen manipuliert haben.
Beide Skandale fielen bei DEW21 intern in den ersten Monaten des Jahres 2024 auf und wurden im Frühjahr öffentlich. Im Frühsommer wurde in der Folge die Stadtwerkechefin Heike Heim zunächst freigestellt und dann fristlos entlassen. Die Stadt Dortmund begründete die Entlassung später mit den Unregelmäßigkeiten bei der Beschaffung in der Energiekrise 2022. Damals war Heim noch DEW21-Chefin, im Jahr 2023 wurde sie dann zur Chefin der Konzernmutter befördert.
Die Stadt hofft, von Heim Schadensersatz für den entstandenen Schaden zu bekommen. Die ehemalige Managerin dagegen weist alle Vorwürfe von sich und klagt gegen ihre Kündigung. Der Fall dürfte deswegen sehr wahrscheinlich vor einem Gericht landen.
Auch der Fall der Stadtenergie dürfte vor Gericht landen. Hier steht ein ehemaliger Manager im Fokus, der für die Manipulationen verantwortlich sein soll.
Wie groß ist der Schaden?
Das steht noch nicht endgültig fest. Für die Folgen der fehlerhaften Einkaufspolitik war aus Stadtwerkekreisen zunächst von einem Schaden von bis zu 100 Millionen Euro die Rede. Nach einem Bericht der WAZ über die einseitige Interpretation des Gutachtens sprechen die Verantwortlichen nun noch von einem Schaden im zweistelligen Millionenbereich. In den Geschäftsberichten der DEW21 ist dieser Verlust allerdings nicht explizit beziffert.
Bei Stadtenergie erwarteten die Verantwortlichen laut Angaben aus dem Sommer einen Schaden aus allen Unregelmäßigkeiten von 74 Millionen Euro. Für die Entschädigung der Kunden mussten rund 25 Millionen Euro ausgegeben werden, gut 10 Millionen Euro weniger als erwartet. 20 Millionen Euro muss Stadtenergie an den Staat zurückzahlen, weil er einen Teil der überteuerten Preise über die Gaspreisbremse übernommen hatte.
Besonders bitter ist der hohe Schaden, weil ihn am Ende die Dortmunder Bürger haben: Die Stadtwerke gehören der Stadt. Die Rückstellungen für Verluste bei DEW21 und den der Stadtenergie haben den Gewinn der Stadtwerke aufgefressen, die übliche Gewinnabführung an die Stadt fällt aus.
Wer ist an dem Schlamassel schuld?
Die Spindoktoren aus dem Dortmunder Rathaus und den Stadtwerken verbreiten unter vorgehaltener Hand eine einfache Geschichte: Die Stadtwerke seien Opfer von Einzelpersonen geworden, die mit fragwürdigen bis kriminellen Machenschaften ihre Karriere beflügeln wollten. Ob es wirklich so einfach ist, oder ob möglicherweise falsche Zielvorgaben, eine fragwürdige Unternehmenskultur oder eine womöglich zu lasche Kontrolle durch den Aufsichtsrat auch eine Rolle gespielt haben könnten, werden am Ende wohl Gerichte klären. Es gibt jedenfalls eine Reihe von Indizien, die nahelegen, dass die Probleme bei DEW21 deutlich tiefer gehen.
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Um die Frage tiefer zu beantworten, muss man sich allerdings zunächst erst näher mit den einzelnen Skandalen beschäftigen.
Was ist beim Energieeinkauf der DEW21 schief gelaufen?
Die Stadt Dortmund wirft der damaligen DEW21-Chefin Heike Heim vor, sie habe während der Energiekrise „im großen Stil (…) Spekulationsgeschäfte im Energiehandel“ vorgenommen, dabei die mit dem Aufsichtsrat besprochenen Risikolimits gerissen und darüber den Aufsichtsrat nicht informiert. Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) erklärte zudem im Gespräch mit dieser Zeitung: „Scheinbar glaubten einige Verantwortliche bei der DEW damals, schlauer zu sein als der gesamte Markt.“
In diversen Medienberichten wurde das Problem zunächst etwas verkürzt dargestellt: Heim habe während der Energiekrise zum teuersten Zeitpunkt Energie gleich für drei Jahre eingekauft, weil sie davon ausgegangen sei, dass die Preise weiter hoch bleiben. Heute würden Verluste entstehen, weil diese teure Energie weit unter Einkaufspreis an die Kunden verkauft werden müsse – es entstehen heute hohe Verluste.
Diese Erklärung ist in der oberflächlichen Betrachtung nicht falsch, aber bei genauerer Betrachtung versteht man, das man diese Strategie nicht zwangsläufig als „Zockerei“ sehen muss. Dafür muss man allerdings etwas ausholen.
Zunächst ist es nicht ungewöhnlich, dass Stadtwerke Energie für drei Jahre einkaufen – sondern war bei DEW21 sogar vorgeschrieben, um das Risiko zu minimieren. Stadtwerke prognostizieren ihren Verbrauch langfristig und kaufen die benötigte Energie dann in fest definierten Teilen über einen langen Zeitraum ein. Dadurch sind sie relativ unabhängig von Preisschwankungen.
So funktioniert die Energie-Beschaffung
Stadtwerke beschaffen die für ihre Kunden benötigten Mengen an Strom und Gas mit langen Vorlaufzeiten. Wie der Energieeinkauf konkret ablaufen soll und welche Freiheiten der Handel dabei hat, ist in einem sogenannten Risikohandbuch festgelegt. Grundsätzlich gibt es zwei übliche Arten der Beschaffung:
Für Industriekunden wird die Energie meist schon am Tag des Vertragsabschlusses vollständig eingekauft, back-to-back nennen das die Experten.
Für die Privatkunden wird die Energie so eingekauft, dass weder Kunden noch Unternehmen ein großes Preisrisiko haben, die Fachleute sprechen von rollierend. Auf Basis der bestehenden Verträge und Verbräuche prognostiziert das Unternehmen beispielsweise, wie viel Energie es in 3,5 Jahren benötigen wird. Diese Menge wird in 36 monatliche Tranchen aufgeteilt, die erste 3,5 Jahre im Voraus gekauft, die letzte ein halbes Jahr vor dem Verbrauch. Mit diesem „rollierende System“ kauft man insgesamt immer zum Durchschnittspreis der vergangenen Jahre.
Doch dieses System geriet in der Energiekrise bei vielen Stadtwerken in Turbulenzen, auch bei DEW21. Das Problem in Dortmund war, dass bereits im Herbst 2021 die Verbrauchsprognosen nicht mehr stimmten: Es wurde mehr Energie verbraucht als vorhergesagt, die DEW21 musste Energie teuer nachkaufen. Hinzu kamen Tausende Neukunden, die von insolventen, aufgelösten und über Nacht sehr teuer gewordenen Billiganbietern zu den Stadtwerken flüchteten. Grundversorger wie DEW21 sind verpflichtet, sie aufzunehmen. Jeden Tag musste DEW21 deswegen damals Strom und Gas teuer nachkaufen, es entstanden Millionenverluste.
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 verschärfte sich die Lage noch einmal. In der Folge stiegen die Preise für Strom und Gas teilweise auf das zehnfache, teilweise wurde auch gar nicht mehr gehandelt. Es gab eine große öffentliche Diskussion, ob die Energieversorgung für den kommenden Winter ohne russisches Gas sichergestellt werden könnte.
Für Energieversorger wie DEW21 war die Lage damals herausfordernd. Einerseits waren sie als Grundversorger dafür verantwortlich, dass die Stadt weiterhin mit Strom und Gas versorgt wird. Andererseits stieg mit den Preisen das finanzielle Risiko massiv. Die verantwortlichen DEW-Manager um Heim trieb damals eine Sorge um: Wenn man jetzt nicht genügend Energie für die Zukunft einkauft, fehlt diese später – im besten Fall muss die DEW21 dann für noch viel mehr Geld nachkaufen, im schlechtesten Fall bleiben Wohnungen kalt oder Fabriken können nicht mehr mit Strom und Gas versorgt werden. So erzählen es Menschen, die damals beteiligt waren.
Konkret traf die Runde in dieser Zeit deswegen mehrere Entscheidungen, die damals möglicherweise plausibel waren, heute allerdings Folgekosten haben. Zunächst entschieden die Manager, dass zur Sicherung der Grundversorgung weiter langfristig Energie eingekauft werden soll, auch wenn dadurch gewisse Risikolimits gerissen werden. Später wurde beschlossen, zur Sicherheit etwas mehr Energie für die kommenden beiden Winter einzukaufen und die Zusatzkosten dafür an die Kunden weiterzugeben.
Die neue Beschaffungsstrategie der DEW21
Mitten in der größten Energiekrise seit Jahrzehnten beschließt DEW21 im Jahr 2022 eine neue Beschaffungsstrategie. Drei Maßnahmen sind zentral:
1. Statt einmal im Monat rollierend Energie zu beschaffen, wird nun einmal wöchentlich eingekauft. Die häufigeren Einkäufe niedrigerer Tranchen sollen weniger anfällig für Preisspitzen sein.
2. Um nicht wie im Vorjahr zu wenig Strom und Gas einzukaufen, wird für die Wintermonate November bis Februar in den kommenden beiden Jahren zehn Prozent mehr Energie geordert als für den Kundenbedarf prognostiziert ist. Dieser Risikopuffer ist für den Fall gedacht, dass weitere Energieversorger ausfallen und noch mehr Kunden in die Grundversorgung flüchten. Die Händler sprechen in diesem Fall von einer Longposition.
3. Die hohen Kosten für diesen Puffer finanzieren sollen die Kunden. Sie sollen einen Risikoaufschlag zahlen, Strom und Gas wird für sie also teurer.
Darüber hinaus gab es bei DEW21 damals offenbar massive Probleme mit der Prognose der benötigen Energie und Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Vertrieb und Handel. So wurden offenbar größere Mengen Energie eingekauft, von denen man zunächst glaubte, sie in der Zukunft zu benötigen – was sich dann später als falsche Prognose herausstellte.
Die Summe dieser Maßnahmen belastet das Unternehmen heute. Die damals langfristig eingekauften Mengen kann das Unternehmen heute nicht mehr zu den Einkaufspreisen an Kunden weitergeben. Durch den Verkauf unter Einkaufspreis entstehen Verluste, die allerdings teilweise durch einen damals aufgebauten finanziellen Risikopuffer ausgeglichen werden.
Wo wurden damals Fehler gemacht?
Die Entscheidungen zum zusätzlichen Energieeinkauf und zum Inkaufnehmen eines höheren Risikos waren aus heutiger Sicht falsch, da sind sich alle Experten weitgehend einig. Die Preise sanken wieder und es ist niemals zu einer großen Mangellage gekommen. Um die Entscheidung des Managements im Jahr 2022 zu beurteilen, muss man allerdings den Wissensstand von damals betrachten und bewerten, welche möglichen Alternativen es gegeben hat. Dass die Mangellage nicht kommen würde, konnte damals keiner zweifelsfrei wissen, es hätte auch anders kommen können.
Klar ist, dass es ungewöhnlich bis ungeschickt war, dass Heike Heim den Aufsichtsrat offenbar gar nicht oder nur oberflächlich in ihre Entscheidungen eingebunden hat. „Eine Information des Aufsichtsrats wäre in diesem Fall sicherlich auch klug gewesen“, bewertet der renommierte Stuttgarter Wirtschaftsjurist und Aufsichtsratsexperte Roderich C. Thümmel den Fall. „Das ist ja eigentlich auch keine große Sache, in der Krise sind solche Maßnahmen oft gut zu begründen und manchmal sogar alternativlos.“ Allerdings sei die fehlende Information auch nicht zwingend als Pflichtverstoß zu werten. „Es sei denn aus anwendbaren Regelwerken wie Geschäftsordnungen ergäbe sich anderes.“
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Der DEW21-Aufsichtsrat hat den Dortmunder Wirtschaftsanwalt Lutz Aderhold beauftragt, die Schadensersatzansprüche gegen Heike Heim zu klären. Er muss prüfen, ob Heim und ihre Kollegen damals gegen explizite Regeln verstoßen haben – also ob ihr und ihren Managern die Entscheidungen zustanden und ob sie die Gremien ausreichend informiert hat. Um Schadensersatz zu bekommen, müssen die Juristen Heim nachweisen, dass sie sich damals nicht regelkonform verhalten hat – und dass dieser Regelverstoß zu einem konkret bezifferbaren Schaden geführt hat.
In einer ersten Stellungnahme hat Aderhold Ende September die ehemalige Managerin stark belastet und den Aufsichtsrat entlastet. Heike Heim habe „ohne Mitwisser und Mitwirkung der beiden anderen Geschäftsführer“ beschlossen, „sämtliche Risikoleitplanken“ nicht weiter anzuwenden, erklärte Aderhold. „Solange der Aufsichtsrat mangels anderer Informationen davon ausgehen konnte, dass die internen Risikoleitplanken eingehalten werden, musste der Aufsichtsrat keinen Verdacht schöpfen.“ Heim habe „im großen Stil (…) Spekulationsgeschäfte im Energiehandel“ vorgenommen. „Eine Berichterstattung darüber an den Aufsichtsrat hat es nach unseren Recherchen nicht gegeben.“
Allerdings gibt es Zweifel an Teilen dieser Stellungnahme. Der WAZ wurden interne Dokumente zugespielt, die zeigen, dass die restliche Geschäftsführung anders als von Aderhold behauptet sehr wohl frühzeitig informiert wurde über die Maßnahmen. Zudem waren intern nicht nur Heim, sondern auch die verantwortlichen Manager der Überzeugung, rechtmäßig zu handeln. Man ließ den Vorgang offenbar sogar rechtlich prüfen. Nachfragen dazu beantworten aber weder die DEW21 noch Aderhold.
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Darüber hinaus gibt es Zweifel an der rechtlichen Entlastung des Aufsichtsrats. Aufsichtsratsexperte Thümmel sieht den Aufsichtsrat mitten in einer der größten Branchenkrisen der vergangenen Jahrzehnte in der Pflicht, tiefer nachzuhaken. „Wenn ein Unternehmen in der Krise steckt, darf ich mich nicht mit oberflächlichen Informationen abspeisen lassen“, sagte Thümmel im Interview mit unserer Redaktion.
Der Experte für Haftungsfragen sieht neben Heim vor allem den Aufsichtsratschef, Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD), und die Chefin des Gesellschafters Westenergie, Katherina Reiche, in der Verantwortung. Sie hätten die Vorgänge tiefer hinterfragen müssen. Zumal es in den Vorgaben des Risikohandbuchs der DEW21 heißt: „Der Aufsichtsrat und die Gesellschafter kennen das Risikorahmenkonzept von DEW21. Die Gremien überprüfen und bewilligen die globalen Risikolimits und setzen sich mindestens einmal jährlich mit den Risikopositionen der DEW21 auseinander.“
Welche Fragen sind noch offen?
Wer in welcher Form wen wann wie informiert hat und was wer wann tun durfte, das sind die Fragen, mit denen sich derzeit die Juristen befassen – und später aller Wahrscheinlichkeit nach Gerichte. War die fristlose Kündigung von Heike Heim rechtmäßig? Und steht DEW21 ein Schadensersatz zu? Wenn der Fall vor Gericht geht, dürften viele weitere Details ans Licht kommen. Eine außergerichtliche Einigung erscheint derzeit wenig wahrscheinlich, zu scharf haben Westphal und Gutachter Aderhold Heike Heim dafür öffentlich angegriffen.
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Ungemütlich könnte es dann auch für die anderen Gremien werden. Unklar bleibt etwa, wie tief der Aufsichtsrat damals in die Krisenstrategie des Energiekonzerns einbezogen war – und wie weit die Aufsichtsräte ihren Kontrollpflichten nachgekommen sind. Auf Anfragen der WAZ haben die Aufsichtsräte nicht reagiert. Die Stadt gibt auch keine Auskünfte, ob sie neben Pflichtverletzungen von Heike Heim auch mögliches Fehlverhalten der anderen Geschäftsführer und des Aufsichtsrats prüft.
Politisch gefährlich ist das alles vor allem für Thomas Westphal, der im kommenden Jahr als Oberbürgermeister in Dortmund wiedergewählt werden will. Die zentrale Frage ist: Hat er als Aufsichtsratschef und Oberbürgermeister wirklich von den Problemen und dem Strategiewechsel so wenig mitbekommen? Neben den Aufsichtsratssitzungen gab es ja weiteren Austausch zwischen Heim und Westphal und auch eine Ukraine-Taskforce, in der auch über das Thema Beschaffung geredet wurde. Wäre er dort tiefer informiert worden, hätte er den restlichen Aufsichtsrat informieren müssen, sagt Aufsichtsratsexperte Thümmel.
Worum geht es beim Skandal um die Ökotochter Stadtenergie?
Ein leitender Mitarbeiter des Energiediscounters Stadtenergie soll Energieabrechnungen manipuliert und Kunden zu hohe Kosten für Gas und Strom in Rechnung gestellt haben. Nach derzeitigem Ermittlungsstand allerdings nicht, um sich selbst zu bereichern. Er habe die Kunden betrogen, und die „Umsatz- und Ertragslage des Unternehmens positiver darstellen wollen, um seiner Karriere Vorschub zu leisten“, heißt es von der Staatsanwaltschaft, die seit einigen Monaten ermittelt.
DEW21 hat mit Hilfe von externen Experten alle 124.750 Verträge des Startups überprüft. Das Ergebnis: Bei 71.505 Kundinnen und Kunden gab es „Unregelmäßigkeiten“. In den Jahren 2022 und 2023 haben vor allem Gaskunden, teilweise auch Stromkunden, zu viel bezahlt. 24,6 Millionen Euro hat die DEW21 nun an Kunden zurückgezahlt. Rechnerisch erhält jede und jeder Betroffene damit im Durchschnitt rund 350 Euro zurück.
Der Gesamtschaden für die Stadtwerke liegt insgesamt noch deutlich höher, weil die Bilanzen der Stadtenergie im Nachhinein für zwei Jahre nach unten korrigiert werden müssen. Zu den Rückzahlungen kommt noch die bilanzielle Rückabwicklung der durch die überhöhten Abrechnungen deutlich geschönten Jahresabschlüsse der Ökotochter hinzu.
Wie hat der Betrug funktioniert?
Stadtenergie wurde 2020 als konzerneigenes Start-up des Dortmunder Energieriesen DEW21 gegründet. Das Team aus anfangs gerade einmal fünf Mitarbeitern sollte im Internet Gas- und Strom-Kunden aus ganz Deutschland gewinnen. Dabei sollte Stadtenergie unabhängig vom Mutterkonzern neue IT-Lösungen ausprobieren und die Kunden rein digital verwalten. Die Idee: ein digitales Schnellboot als Innovationsschmiede für den Konzern.
Doch trotz teils massiven Wachstums begannen früh die Probleme: Schon Anfang 2022 gab es erste massive Beschwerden im Netz, ab Sommer 2022 tauchten massenhaft Beschwerden in Bewertungsportalen auf. Dennoch wuchs das Unternehmen 2022 rasant: Der Umsatz stieg von 18 auf 92 Millionen Euro, die Mitarbeiterzahl indes nur von acht auf zehn.
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In dieser Phase begann nach bisherigem Ermittlungsstand auch der Betrug. Der leitende Angestellte soll Strom- und Gasabrechnungen für die Jahre 2022 und 2023 manipuliert haben. Dafür soll er die massiven Preisentwicklungen in Folge des Ukrainekriegs sowie die damit verbundenen politischen Maßnahmen genutzt haben.
Der Manager soll für 30.000 Gaskunden rückwirkend bei jeder Kilowattstunde 1,4 Cent Umlage aufgeschlagen haben. Als die Mehrwertsteuer auf Gas von 19 auf 7 Prozent gesenkt wurde, soll er zwar den Steuersatz im System geändert haben, aber nicht den notwendigen zweiten Schritt gemacht haben: die im System des Unternehmens zwingende Anpassung der Preise.
Am schlimmsten traf es ab Oktober 2022 die Altkunden, die bereits früh einen Vertrag bei Stadtenergie abgeschlossen hatten. Sie zahlten relativ wenig für Gas, das Stadtenergie nun teuer einkaufen musste. Der angeblich verantwortliche Manager habe damals einen Mitarbeiter beauftragt, eine Liste mit Kunden zu erstellen, die „unter Wasser“ seien, also die Stadtenergie viel Geld kosteten. Für diese habe er dann heimlich den Preis von 9 auf 42 Cent pro Kilowattstunde erhöht. So werfen es die DEW21-Anwälte ihm vor.
Wie hat das Unternehmen reagiert?
Dass etwas bei dem Start-up nicht stimmt, will man bei DEW21 erst in diesem Frühjahr bemerkt haben. Nach Angaben der Anwälte von DEW21 waren die Manipulationen aufgeflogen, nachdem im vergangenen Jahr ein neuer Geschäftsführer bei der Stadtenergie angefangen hatte. Er bemerkte, dass in einer Exceltabelle eine Formel zur Prognose des künftigen Energieverbrauchs gelöscht und durch eine feste Zahl ersetzt wurden. Nachdem der mutmaßlich verantwortliche Manager darauf keine schlüssige Erklärung gehabt habe, seien Wirtschaftsprüfer eingeschaltet worden.
Im Frühjahr wurde der leitende Mitarbeiter freigestellt, anschließend hat der Mutterkonzern eine Prüfung durch Wirtschaftsprüfer und Datenanalysten beauftragt. Knapp sechs Wochen nach der Entdeckung der Unregelmäßigkeiten informierten DEW21 und Stadtenergie am 24. Mai die Öffentlichkeit. Das Unternehmen versprach damals, auf alle Kunden zuzugehen, um sie zu entschädigen. Seit Mitte Oktober werden die Kunden entschädigt, hat das Unternehmen mitgeteilt.
Was ist mit dem Mitarbeiter passiert?
Der Mitarbeiter wurde nach Bekanntwerden der Manipulationen im Februar entlassen. Nachdem sich der Verdacht aus Sicht der DEW21 im Sommer erhärtet hatte, folgte juristisch formell auch noch eine fristlose Kündigung. Ob seine Kündigung rechtens ist, darum wird gerade noch vor dem Arbeitsgericht Dortmund gestritten.
Das Unternehmen wirft dem Mann vor, die tatsächliche Bilanz der Stadtenergie durch die unzutreffenden Abrechnungen mit falschen Zahlen verschleiert zu haben. Zudem soll der Mann im Umgang mit seinen Mitarbeitern teils sehr harsch umgegangen sein und im Zusammenhang mit der Nutzung seines Dienstwagens falsche Angaben gemacht haben.
Auch die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen „Betrugs in Drittbereicherungsabsicht“ gegen den Manager. Bei einer Durchsuchung seines Autos und seiner Wohnung am 16. Juli wurden Datenträger sichergestellt.
Was passiert mit dem Unternehmen?
Vieles spricht dafür, dass das Unternehmen Stadtenergie nach diesem Imageschaden vom Markt verschwindet und die verbleibenden Kunden an die DEW21 übergeben werden. Die bisherigen Führungskräfte des Unternehmens wurden im Frühjahr ausgetauscht, Mitarbeiter des Start-ups haben neue Verträge bei der Konzernmutter bekommen. Die DEW21 äußert sich bisher offiziell nicht zu ihren Plänen. Bürgermeister Westphal hat allerdings angekündigt, dass er keine Zukunft für das Unternehmen sieht.