Dortmund. Interne Aufsichtsratsunterlagen zeigen, dass die Aufseher im Stadtwerke-Skandal umfassender informiert wurden als bekannt.
Wussten die Aufseher der DEW21 doch mehr über die massiven Probleme, in die der städtische Energieversorger in der Energiekrise schlitterte? Diese Frage war am Mittwoch Thema im Aufsichtsrat der skandalumwitterten Tochter der Dortmunder Stadtwerke. Anlass war eine Anfrage dieser Zeitung.
Seit Monaten wird die Stadtwerketochter DEW21 von einem Doppelskandal um gefälschte Abrechnungen und schlechte Einkaufspolitik in der Energiekrise erschüttert. Es soll ein Schaden in bis zu dreistelliger Millionenhöhe entstanden sein, Stadtwerke-Chefin Heike Heim wurde deswegen im Juli fristlos entlassen. Das Vertrauensverhältnis sei gestört, hieß es damals zur Begründung. Stärkster Vorwurf: Heim habe den Aufsichtsrat nicht ausreichend informiert.
„Auch für mich sind die Vorgänge rund um die Beschaffung im Jahr 2022 erst durch die Gutachterarbeit der PWC, die wir ja selbst im Aufsichtsrat beauftragt hatten, bekannt geworden“, hatte Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) als Aufsichtsratsvorsitzender im Sommer erklärt. Ein Gutachten der Wirtschaftsprüfer von PWC hatte im Frühjahr dieses Jahres die Beschaffungspolitik der DEW21 in der Krise beleuchtet. Zuletzt sagte Westphal dieser Zeitung: „Im Aufsichtsrat waren Risikopositionen, die durch die Beschaffungsstrategie aufgebaut wurden, und offensichtlich die gesteckten Grenzen des Aufsichtsrats deutlich überschritten, nicht bekannt.“
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Unterlagen, die dieser Zeitung vorliegen, werfen nun allerdings Zweifel auf, ob der Aufsichtsrat wirklich so überrascht von den Problemen gewesen sein konnte. Demnach wurden die Aufseher der DEW21 im Juni 2022 durchaus über die dramatische Situation an den Energiemärkten, über die Auswirkungen auf das Unternehmen und die ergriffenen Maßnahmen informiert.
Mehr als 30 Folien zur Beschaffung wurden dem DEW-Aufsichtsrat vorgelegt
Unter TOP9a finden sich in den Unterlagen zur Aufsichtsratssitzung im Juni 2022 mehr als 30 Folien zum Thema Beschaffung und Energiemarkt. Dass die Situation am Energiemarkt dramatisch ist, lässt sich daraus leicht erkennen. Auf einer Folie ist etwa ein Ausschnitt aus einem Bericht des Fachinformationsdienstes Energate Messenger zu sehen. „Der Ukrainekrieg sorgt für ‚epische Zeitenwende‘ im Energiehandel“, ist dort zu lesen. „Der OTC-Terminmarkt ist leergefegt.“
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Auf einer weiteren Folie ist unter der Überschrift „Herausforderungen für DEW21“ dargestellt, was das konkret für das Unternehmen bedeutet, unter anderem: steigende Preise und erhebliche Liquiditätsrisiken. Es folgt eine mehrseitige Analyse, wie sich die Situation konkret auf die Zahlen der DEW21 auswirkt. Unter der Überschrift „Situation Energiegeschäft Q1 und Prognose“ konnte damals jedes Aufsichtsratsmitglied nachlesen, dass die Krise im ersten Quartal 2022 im Stromhandel zu einem Verlust von neun Millionen Euro geführt hat – obwohl eigentlich ein ausgeglichenes Ergebnis prognostiziert worden war.
Besonders entscheidend für den Aufsichtsrat ist allerdings die Folie mit der Nummer 87. Unter der Überschrift „Absicherungsaktivitäten des Handels“ sind dabei die beiden wesentlichen Maßnahmen beschrieben, die damals getroffen wurden. Oben auf der Folie befinden sich zwei Grafiken mit Kurven zum Gas- und Stromverkauf und den für den Verbrauch von DEW eingekauften Mengen („Basehedge 2022“). Für die Monate Oktober bis Dezember ist grafisch dargestellt, dass mehr eingekauft wird als bisher geplant.
Unter den Grafiken sind die Maßnahmen beschrieben:
- „Beschaffung zusätzlicher Mengen, die 10% des Baseloadbedarfes entsprechen“
- „Illiquiditätsprämie bildet Rücklage, um Marktverwerfungen finanziell abzufedern“
Hinter den für Laien schwer verständlichen Sätzen verbergen sich die beiden wesentlichen Maßnahmen, die damals im Jahr 2022 von der DEW21 ergriffen wurden:
- Um nicht (wie im Vorjahr geschehen) zu wenig Strom und Gas für die Heizperiode einzukaufen, wurde für die Wintermonate zehn Prozent mehr Energie geordert als für den Kundenbedarf prognostiziert war. Dieser Risikopuffer war für den Fall gedacht, dass weitere Energieversorger ausfallen und noch mehr Kunden in die Grundversorgung flüchten sollten.
- Die hohen Kosten für diesen Puffer finanzieren sollten die Kunden. Sie sollten einen Risikoaufschlag („Illiquiditätsprämie“) zahlen, Strom und Gas wurde für sie also teurer.
Aus Stadtwerkekreisen ist zu hören, dass die Sätze für die Aufsichtsräte möglicherweise zu kompliziert formuliert waren – und sie diese nicht verstanden hätten. Neben Vertretern der Arbeitnehmer und des DEW21-Minderheitsaktionärs Westenergie gehören dem Aufsichtsrat auch Vertreter von SPD, CDU, Grünen und Linken an. Ein langjähriges Aufsichtsratsmitglied sagt dazu, die Fachkompetenz im Aufsichtsrat sei nicht sehr hoch.
Diese Zeitung hatte Westphal sowie die Vertreter im DEW21-Aufsichtsrat von Westenergie, der SPD, der CDU, der Grünen und der Linken bereits am Montag angefragt, ob ihnen die besagten Folien zur Verfügung gestellt worden seien, ob sie die Unterlagen gesichtet hätten und was Frau Heim im Aufsichtsrat dazu gesagt habe. Mehrere Aufsichtsratsmitglieder erklärten auf Anfrage, sie könnten sich wegen ihrer „Pflicht zur Verschwiegenheit“ zu dem Thema nicht äußern.
Am Mittwochmittag, 48 Stunden nach unserer Anfrage, meldete sich das Büro von Thomas Westphal bei dieser Zeitung, der Aufsichtsrat werde über unsere Fragen zum Thema beraten. Am Abend schickte die DEW21 schließlich ein gemeinsames Statement: „Die Aufsichtsratssitzungen sind vertraulich. Wir bitten daher um Verständnis, dass wir Inhalte nicht kommentieren.“
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Am Donnerstag – einen Tag nach der Veröffentlichung der ersten Fassung dieses Textes – äußerte sich Westphal dann allerdings im Rat der Stadt ausführlicher zu den Fragen dieser Zeitung. Auf den Folien stünden nur „Binsenweisheiten“. Die Folie mit den weitergehenden Informationen zur Beschaffungsstrategie sei dem Aufsichtsrat zudem nicht zur Kenntnis gegeben worden.
Eine Taskforce kümmerte sich um die Ukraine
Neben dem Aufsichtsrat war die Energiekrise 2022 für Westphal aber auch an anderer Stelle immer wieder Thema. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine richteten sowohl die Stadt Dortmund als auch die DEW21 Krisenstäbe ein. Bei DEW21 wurde im Frühjahr 2022 in der Ukraine-Taskforce regelmäßig über den Stand der Beschaffung, die Risiken und die Gegenmaßnahmen gesprochen. Co-Geschäftsführer Peter Flosbach hatte dabei die Aufgabe, die dort besprochenen Punkte in die Ukraine-Taskforce der Stadt Dortmund und an den Oberbürgermeister weiterzutragen.
Kann es sein, dass die großen Herausforderungen bei der Beschaffung dabei kein Thema waren? Flosbach äußert sich auf Anfrage nicht. Aus DEW-Kreisen ist zu hören, dass sich keiner mehr richtig an diese Taskforce erinnern könne. Die Stadt erklärte, Peter Flosbach habe in der städtischen Ukraine-Taskforce über die Sicherung der Energieversorgung für Dortmund berichtet.
Westphal: DEW-Vorgänge erst durch PWC-Untersuchung aufgedeckt
Thomas Westphal antwortete auf Anfrage: „In den genannten Sitzungen wurde auf die allseits bekannte Marktlage kurz nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine hingewiesen. Der mittlerweile bekannt gewordene Vorgang bei der DEW ging darüber weit hinaus und wurde erst durch die Untersuchung der PWC aufgedeckt.“
Im Stadtrat am Donnerstag verwies Westphal noch auf einen weiteren Gutachter. Heike Heim habe „ohne Mitwisser und Mitwirkung der beiden anderen Geschäftsführer“ beschlossen, „sämtliche Risikoleitplanken“ nicht weiter anzuwenden, zitierte Westphal dessen Einschätzung. „Solange der Aufsichtsrat mangels anderer Informationen davon ausgehen konnte, dass die internen Risikoleitplanken eingehalten werden, musste der Aufsichtsrat keinen Verdacht schöpfen.“ Heim habe „im großen Stil (…) Spekulationsgeschäfte im Energiehandel“ vorgenommen. Sie habe die Beschaffungsstrategie verlassen. „Eine Berichterstattung darüber an den Aufsichtsrat hat es nach unseren Recherchen nicht gegeben.“
Wie tief Westphal und der Aufsichtsrat informiert waren, wird wohl eine entscheidende Frage, wenn der Fall vor Gericht geht. Heike Heim hat Klage gegen ihre Entlassung eingereicht. Zentrales Problem für die Stadtwerke und Westphal: Die Probleme mit der Beschaffung traten 2022 auf, 2023 wurde DEW21-Chefin Heim auf Initiative von Westphal zur Chefin der Konzernmutter DSW21 befördert – und 2024 dann wiederum unter Federführung von Westphal fristlos entlassen. Wieso fielen den Aufsehern die massiven Probleme nicht vorher auf?
Unangehme Fragen im Rat
Skepsis am Wissensstand des Bürgermeisters gibt es auch in der Dortmunder Opposition. CDU und Grüne haben Westphal aufgefordert darzulegen, „seit wann und inwieweit“ er in den Prozess der Energiebeschaffung und diesbezügliche Entscheidungen eingebunden war. Die Dortmunder Bürger hätten einen Anspruch darauf, dass der Abrechnungsskandal bei der DEW21-Tochter Stadtenergie und die „fragwürdigen Energiebeschaffungsprozesse“ bei DEW21 „vollständig untersucht, aufgearbeitet und Schlussfolgerungen gezogen werden.“
Dabei sähen auch die Stadtratsfraktionen Zweifel daran, dass Westphal erst so spät von den Schwierigkeiten erfahren haben will. CDU und Grüne erinnern daran, dass Heike Heim bei einem „Energiegipfel“ im März 2023 öffentlich erklärt habe, dass DEW21 im Kriegsjahr 2022 zu hohen Preisen habe einkaufen müssen
Thomas Westphal geht unterdessen in die Offensive: Er will, dass DEW21 sich künftig auf Dortmund konzentriert - und nicht mehr selbst mit Energie handelt. „Ich bin dafür, dass sich die DEW21 als lokaler und regionaler Versorger von Strom, Gas und Wasser neu aufstellt, nicht länger bundesweit Kunden akquiriert und sich nicht mehr als Handelshaus für Energie betätigt“, sagte Westphal am Dienstag dieser Zeitung.
Anmerkung: Dieser Text wurde aktualisiert, nachdem sich Thomas Westphal am Donnerstagabend im Rat der Stadt Dortmund ausführlicher zu unseren Fragen geäußert hatte als zuvor auf unsere Anfrage, die er am Mittwochabend nach 53 Stunden Bearbeitungszeit nur mit dem Hinweis auf die Vertraulichkeit der Aufsichtsratssitzung beantwortet hatte.
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