Essen. Bei der Energiewende spielt der Tüv Nord in Essen zentrale Rolle. Chef Stenkamp sagt, wo es hakt und ob Wasserstoff-Busse sicher sind.

Im Foyer der Essener Hauptverwaltung Tüv Nord Gruppe steht nicht von ungefähr das Modell eines Elektrolyseurs, der aus Wasser Wasserstoff herstellt. Für viele der 1700 Beschäftigten am Standort ist der Erdgas-Ersatz ein großes Thema. Dirk Stenkamp, Vorstandsvorsitzender der Tüv Nord Group, erklärt im Interview, wo die Energiewende hakt und ob Wasserstoff tatsächlich völlig ungefährlich ist.

Herr Stenkamp, Deutschland hat sich aufgemacht, die Energiewende zu schaffen. Eine Schlüsselrolle fällt dabei Ihrem Unternehmen, dem Tüv Nord, zu. Ihre Experten müssen Wasserstoff-Pipelines, Wasserstoff-Busse und Bauteile von Windrädern prüfen und genehmigen. Ist das Land auf einem guten Weg in Richtung Klimaneutralität?

Dirk Stenkamp: Um grünen Wasserstoff zu produzieren, brauchen wir sehr viel grünen Strom aus Sonne und Wind. Den Ausbau der Photovoltaik sehen wir als Tüv Nord aktuell auf einem guten Weg. Der notwendige Zubau, um die Sonnenstrom-Produktion bis zum Jahr 2030 zu verdreifachen, wird zum Teil sogar übererfüllt.

Bei der Windkraft sind Sie skeptischer?

Stenkamp: Der Zubau von Windkraftanlagen auf dem Land hinkt den Zielen der Verdoppelung bis 2030 aktuell hinterher. Das liegt zum einen an den noch immer zu langen Zulassungsverfahren, zum anderen an knappen und teuren Materialien wie Seltenen Erden und Kupfer. Bei den geplanten Anlagen auf dem Meer fehlen dagegen Schiffe, die Kabel verlegen. Das alles zusammen mit deutlich gestiegenen Zinsen führt zu einer großen Verunsicherung bei Investoren, die diese Milliarden-Projekte vorfinanzieren müssen.

Kann Tüv Nord mit seinen Gutachten dazu beitragen, dass die Behörden schneller arbeiten können?

Stenkamp: Tüv Nord trägt erheblich zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren bei. Wir sind als Gutachter für Behörden tätig. Allein dadurch gibt es deutlich mehr Tempo. Unsere Experten beraten aber auch Landesregierungen und den Bund bei Gesetzespaketen für die Planungsbeschleunigung. Bislang dauerte das Genehmigungsverfahren für eine Windanlage fünf bis sieben Jahre. Das ist entschieden zu lang.

Tut sich denn etwas?

Stenkamp: Ja. Wir sehen an vielen Stellen, dass sich die Genehmigungsverfahren deutlich beschleunigen, auch in NRW. Die Zauberformel in Gesetzestexten heißt ,überragendes öffentliches Interesse‘. Sie macht vieles schneller. Dennoch bleibt die Energiewende eine Herausforderung. Der Gesetzgeber muss dringend weitere Erleichterungen einführen und die Digitalisierung bei der Antragsstellung und -bearbeitung vorantreiben. Wir müssen überwinden, dass Kisten mit Papier-Akten zwischen Behörden hin und her gefahren werden. Das geht digital einfacher und schneller.

Dirk Stenkamp, der Chef vom Tüv Nord, kritisiert, dass der Bund von vornherein auf grünen Wasserstoff setzt.
Dirk Stenkamp, der Chef vom Tüv Nord, kritisiert, dass der Bund von vornherein auf grünen Wasserstoff setzt. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Sind Sie zuversichtlich, dass Deutschland die Klimaziele wie geplant erreicht?

Stenkamp: Die Ampelkoalition in Berlin hat hohe Priorität auf vermeintlich „grüne“ Technologien gesetzt und damit die Messlatte sehr hochgelegt. Ich erinnere daran, dass Deutschland aus der Kernkraft ausgestiegen ist und gleichzeitig die Vorgabe hat, von Beginn an auf grünen Wasserstoff zu setzen. Andere Länder gehen das anders an und lassen für den Markthochlauf auch blauen Wasserstoff zu, bei dessen Herstellung das anfallende CO2 im Boden gebunden wird. Für die deutsche Energiewende wünsche ich mir persönlich weniger Ideologie und mehr Pragmatismus und damit Geschwindigkeit bei der Umsetzung.

Immer mehr Kommunen setzen auf Busse und Müllfahrzeuge mit Wasserstoff. Ist diese Technologie sicher?

Stenkamp: Wir haben uns an unserem Technologiestandort in Essen insbesondere auf die Prüfung von Lkw und Bussen spezialisiert, in denen Wasserstoff die Brennstoffzelle speist. Diese treibt einen Elektromotor an. Wasserstoff-Pkw sind aktuell eher noch Exoten. Der Umgang mit Wasserstoff ist grundsätzlich ungefährlich, sofern technische Vorgaben eingehalten werden. Diese werden durch uns im Zuge der Typzulassung von Fahrzeugen streng überprüft.

Was kann passieren?

Stenkamp: Wenn sich Wasserstoff beispielhaft unter einem Abschirmblech sammeln und verdichten kann, kann er sich bei der Vermischung mit Sauerstoff entzünden. Deshalb gucken wir uns das technische Design, insbesondere das Betankungssystem, sehr genau an, bevor ein Prototyp zugelassen wird. Übrigens: Wir als Tüv Nord prüfen auch Brennstoffzellen und Elektrolyseure, bevor sie in den Massenmarkt kommen.

Was ist denn der große Vorteil von Wasserstoff-Fahrzeugen?

Stenkamp: Aus dem Auspuff kommt nur Wasser. Das ist das Entscheidende.

Das Ruhrgebiet mit seiner großen Stahl- und Chemieindustrie wird die erforderlichen riesigen Wasserstoff-Mengen nicht selbst herstellen können. Deshalb setzt man auf Pipelines, um Wasserstoff zu importieren. Kommt da auch der Tüv Nord ins Spiel?

Stenkamp: Ja. Wir erstellen die Gutachten, wenn bestehende Erdgas-Leitungen auf Wasserstoff umgerüstet werden sollen. Das Ruhrgebiet hat hier einen klaren Standortvorteil. Denn vielerorts im Revier floss vor dem Erdgas sogenanntes Stadtgas durch die Leitungen. Das Stadtgas entstand früher in den Kokereien und wurde in den Haushalten zum Kochen und Heizen genutzt. Stadtgas bestand bereits zu 51 Prozent aus Wasserstoff. Diese ehemaligen Stadtgas-Leitungen können nun für den Transport von Wasserstoff genutzt werden, sofern alle technischen Anforderungen eingehalten werden. Insbesondere die Ausführung der Röhren-Verbindung ist hier entscheidend.

In den nächsten Jahren sollen alle Kohlekraftwerke im Ruhrgebiet abgeschaltet werden. Um die Grundlast zu erhalten, soll es neue Gaskraftwerke geben. Ist die Gefahr von Blackouts damit gebannt?

Stenkamp: Auch wenn die Sonne nicht scheint und es windstill ist, müssen wir zukünftig keine stundenlangen Ausfälle der Stromversorgung befürchten. Die Schwankungen, die Photovoltaik und Windkraft naturgemäß mit sich bringen, können aber dazu führen, dass Computer und Roboter für Bruchteile von Sekunden unversorgt bleiben und herunterfahren. Dieser Gefahr begegnet man mit sogenannten Netzboostern. Das sind schnelle stationäre Stromspeicher, welche diese Netzschwankungen ausgleichen.

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