Düsseldorf. Air Liquide hat große Wasserstoff-Pläne für Oberhausen. Konzernmanager Gilles Le Van warnt zugleich, die Industrie stehe „am Scheideweg“.
Bundespräsident Steinmeier war schon bei Air Liquide in Oberhausen, Ministerpräsident Wüst und Wirtschaftsminister Habeck ebenso. Dass Gilles Le Van, der Aufsichtsratschef von Air Liquide Deutschland, so viel Polit-Prominenz begrüßen durfte in den vergangenen Monaten, hat vor allem mit dem Bau eines Elektrolyseurs zur Wasserstoff-Herstellung in Oberhausen zu tun. Hinzu kommt: Auch generell lässt sich der Wandel der Industrie im Ruhrgebiet gut am Beispiel des französischen Gase-Konzerns erklären.
Als Lieferant von industriellem Sauerstoff sowie Stickstoff und Wasserstoff sind die Standorte von Air Liquide dort, wo sich die großen Verbraucher befinden – Konzerne wie Covestro, Henkel, Thyssenkrupp oder OQ, ehemals Oxea. Rund 4500 Beschäftigte gehören bundesweit zu Air Liquide. Mit Anlagen in Gelsenkirchen, Dortmund, Duisburg, Marl, Oberhausen und Dormagen liegt ein Schwerpunkt der Aktivitäten in NRW.
Etwa 100.000 Kunden beliefert Air Liquide eigenen Angaben zufolge in Deutschland: Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Branchen. Die Palette reicht von Auto- und Stahlherstellern über Raffinerien oder die Luftfahrtbranche bis zu Agrar- und Lebensindustrie. Beim Betrieb von Hochöfen, Chemiefabriken, der Verpackung von Lebensmitteln unter Schutzatmosphäre oder der Produktion von Halbleitern in Reinräumen kommt Air Liquide ins Spiel.
Entsprechend breit ist die Datenbasis, über die das Unternehmen verfügt. Brummt die Wirtschaft oder schwächelt sie? Welche Bereiche sind betroffen? Informationen dazu kann das Management von Air Liquide auch an den eigenen Geschäftszahlen ablesen.
Ein Drittel der energieintensiven Industrie gefährdet?
Gilles Le Van, der Aufsichtsratschef von Air Liquide Deutschland, spricht offen darüber, wie angespannt die Lage in der Industrie aktuell ist. „Die Industrie steht im Moment wirklich am Scheideweg“, sagt der Manager vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung (WPV) in Düsseldorf. Das „Business-Modell der Deutschland AG“ stehe unter Druck, denn es basiere in hohem Maße auf der zuverlässigen Verfügbarkeit von günstiger Energie. Seit dem Wegfall der russischen Erdgaslieferungen infolge des Ukraine-Kriegs habe sich die Situation der Industrie in Deutschland grundlegend geändert, betont Gilles Le Van. Die Energiepreise seien immer noch zwei- oder dreimal höher als vor der Krise. Wenn dies das Niveau bleibe, so der Manager, „hätten wir ein Problem“. Er schätze, dass dann etwa ein Drittel der energieintensiven Industrie in Deutschland gefährdet sei.
Der deutsche Zweig von Air Liquide ist eingebettet in das Geflecht eines internationalen Großkonzerns mit rund 67.000 Mitarbeitern in mehr als 70 Ländern weltweit. Wenn es um künftige Investitionen geht, konkurriert Deutschland also mit den USA, Asien oder Australien. Ob es schwieriger werde, der französischen Konzernführung zu vermitteln, warum es sich lohne, Geld in Deutschland anzulegen? „Absolut“, sagt Gilles Le Van dazu. Und das habe vor allem mit den gestiegenen Energiekosten zu tun. Rasch stelle sich die Frage: „Mache ich es eher in Australien oder eher in Duisburg?“
Ruf nach einem Industriestrompreis
Die Stärke von Deutschlands Industrie hänge seit Jahrzehnten stark mit einer engen Vernetzung verschiedener Betriebe zusammen. Teile dieser Wertschöpfungsketten drohten nun wegzubrechen, denn einige Unternehmen seien aufgrund der hohen Energiekosten „in einer schwierigen Situation“, berichtet Gilles Le Van. Auf dem Spiel stehe, dass Deutschland einen Teil der Industrie verliere.
Daher plädiert Gilles Le Van vehement dafür, dass der Staat die Stromkosten für die heimische Industrie mit Hilfe von Steuergeldern drücken sollte – zumindest für eine Übergangszeit, bis mehr erneuerbare
Energie zu bezahlbaren Preisen auf dem Markt ist. Zwischen vier und sechs Cent pro Kilowattstunde seien notwendig, damit die Industrie in Deutschland eine Zukunft habe. „Alles darüber wird schon eng“, sagt Gilles Le Van. Abhängig vom Kreis der Branchen und der tatsächlichen Höhe der Bezuschussung ginge es um eine milliardenschwere Subventionierung der Wirtschaft durch den Staat.
Air Liquide setzt auf Kooperation mit Siemens Energy
Dass sich die Industrie verändern müsse, daran bestehe kein Zweifel, macht der Manager klar, der neben einem französischen mittlerweile auch über einen deutschen Pass verfügt. Beim Aufbau der Wasserstoff-Wirtschaft will Air Liquide eine wichtige Rolle in Europa spielen. Dabei setzt der französische Konzern auf eine Kooperation mit dem deutschen Branchenriesen Siemens Energy. Für die industrielle Serienfertigung von Elektrolyseuren zur Wasserstoff-Produktion haben die beiden Konzerne ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet. Es gehe um eine Art „Wasserstoff-Airbus“, sagt Gilles Le Van in Anspielung an das industriepolitische Modell einer deutsch-französischen Luftfahrt-Zusammenarbeit.
Neben dem Sitz der Gemeinschaftsfirma von Siemens Energy und Air Liquide befindet sich auch die Elektrolyseur-Fertigung in Berlin. Am Siemens-Standort Mülheim an der Ruhr sollen Elektrolyseur-Bauteile zusammengesetzt werden. In Oberhausen will Air Liquide gegen Jahresende – voraussichtlich im November – die Wasserstoff-Produktion starten, zunächst mit einer Kapazität von 20 Megawatt. Die Fabrik könnte noch ausgebaut werden.
Den Wasserstoff aus Oberhausen will Air Liquide in ein unternehmenseigenes Wasserstoffnetz einspeisen, das rund 240 Kilometer lang ist und von Dormagen bis nach Marl reicht, wie Gilles Le Van berichtet. Als Kunden hat Air Liquide unter anderem Chemie- und Stahlhersteller im Blick. Dass Bundespräsident Steinmeier und Wirtschaftsminister Habeck bei ihren Reisen ins Ruhrgebiet zunächst Thyssenkrupp in Duisburg und dann Air Liquide in Oberhausen besucht haben, dürfte kein Zufall gewesen sein.