Essen. Laut einer aktuellen Analyse brauchen drei von vier Krankenkassen mehr Geld. Kenner erwarten, dass Beiträge unkalkulierbarer steigen werden
Auf gesetzlich Versicherte könnten noch in diesem Jahr deutlich höhere Krankenkassenbeiträge zukommen. Laut einer aktuellen Analyse des Essener IT-Dienstleisters Bitmarck reicht für drei von vier Krankenkassen der derzeitige Zusatzbeitrag nicht aus, um aus den laufenden Einnahmen ihre Kosten zu decken. Für 73 Prozent der gesetzlich Versicherten könnte das bedeuten, dass die Kassenbeiträge sogar noch im laufenden Jahr steigen.
Dirk Janssen, Vorsitzender des BKK-Landesverbands Nordwest, rechnet mit einem spürbaren Plus. „Die ersten Krankenkassen haben ihren Zusatzbeitrag bereits erhöht und es wird zu weiteren Erhöhungen in diesem Jahr kommen“, so Janssen, der für 14 Betriebskassen mit rund drei Millionen Versicherten spricht. Spätestens zum Jahreswechsel sei mit einem Plus von mindestens 0,2 oder 0,3 Prozentpunkten auszugehen.
Der BKK-Dachverband geht sogar von größeren Zahlen aus. Sollten geplante Bundesgesetze wie die Klinikreform wie geplant umgesetzt werden, prognostiziert der BKK-Dachverband einen Anstieg des Zusatzbeitrags auf 2,45 Prozent plus X. Aktuell liegt er im Durchschnitt bei 1,6 Prozent.
Jede zweite Krankenkasse hat 2024 ihren Beitrag erhöht
Die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren sich grob gesagt aus Beiträgen und Bundeszuschüssen. Beides wird aus dem sogenannten Gesundheitsfonds an die Versicherungen verteilt. Zuschläge gibt es für Risikofaktoren wie Alter, Krankheiten oder Wohnort. Der allgemeine Beitragssatz liegt bei 14,6 Prozent. Um Ausgaben abzudecken, die nicht über Gelder aus dem Fonds bestritten werden können, dürfen Krankenkassen einen eigenen Zusatzbeitrag erheben. Der steigt seit Jahren verlässlich zum 1. Januar an. Anfang 2024 hatte jede zweite gesetzliche Versicherung ihre Zusatzbeiträge erhöht. Überraschend holte die Viactiv mit Sitz in Bochum im April sogar unterjährig nach.
„Wir erleben immer häufiger, dass Probleme im Gesundheitssystem zulasten der Beitragszahler gelöst werden sollen.“
Hintergrund ist das massive Finanzloch der Krankenkassen. Laut Bitmarck driften Ausgaben und Einnahmen immer mehr auseinander. Für 2024 wird mit einem Rekord-Defizit von 32 Milliarden Euro gerechnet. Geschätzte Einnahmen von 284 Milliarden Euro stünden erwarteten Ausgaben von 316 Milliarden Euro gegenüber.
Immer neue Aufgaben und fehlende Kontrolle
Krankenkassen in NRW verweisen auf immer neue Vorgaben durch neue Gesetze im Gesundheitssystem. Zugleich steigen Ausgaben in einer alternden Gesellschaft und auch Tarifabschlüsse sorgten für ein Ausgaben-Plus. „Keine Krankenkasse hebt ihren Zusatzbeitrag ohne Not an“, so Janssen. „Die Krankenkassen sind in der schwierigen Lage, dass die Politik über Jahre ihr Vermögen systematisch heruntergefahren hat und gleichzeitig ihre Ausgaben immer weiter gestiegen sind.“
Kritisch wird auch deshalb der Plan des Bundes gesehen, die Kassen am nötigen Umbau der Krankenhauslandschaft zu beteiligen. Sie wehren sich gegen das Vorhaben des Bundes, Investitionskosten mitzutragen, damit sich Kliniken spezialisieren und zusammenschließen können. „Wir erleben immer häufiger, dass Probleme im Gesundheitssystem zulasten der Beitragszahler gelöst werden sollen“, so Janssen.
Vielen Krankenkassen fehlten Rücklagen, heißt es aus der Branche. Fusionen werden deshalb wahrscheinlicher. Auch könnten Kassen ihre freiwilligen Zusatzleistungen zusammenstreichen, die über die gesetzlichen Pflichtleistungen hinausgehen, etwa Kostenübernahmen für Heilpraktiker, Osteopathie oder Fernreiseimpfungen.
AOK Rheinland/Hamburg: Ausgaben müssen wieder stärker kontrolliert werden
Auch die AOK Rheinland-Hamburg rechnet mit kurzfristig steigenden Beiträgen am Markt, schließt das für sich selbst derzeit aber aus. „Wir stehen vor einer gewaltigen Veränderung des Gesundheitssystems, die zunächst zu höheren Umbaukosten führen wird“, sagt Günter Wältermann, Vorstandschef der AOK. „Die Beiträge werden deshalb stärker steigen, als wir das bislang erlebt haben.“ Der AOK-Bundesverband schätzt die zusätzlichen Belastungen für die gesetzliche Krankenversicherung durch die Reformpläne der Bundesregierung in den nächsten Jahren auf mindestens 30 Milliarden Euro.
„Wir stehen vor einer gewaltigen Veränderung des Gesundheitssystems, die zunächst zu höheren Umbaukosten führen wird. Die Beiträge werden deshalb stärker steigen, als wir das bislang erlebt haben.“
Der Kassenchef betont zwar, dass ungeplante Mehrausgaben auch mit dem schnelleren medizinischen Fortschritt zu tun hätten. Als ein neues Hepatitis-C-Medikament auf den Markt kam, haben sich unerwartet Mehrkosten von 100 Millionen Euro ergeben. Mit diesen Ausgaben hat sich aber auch die Versorgung der Patienten verbessert. Das waren unter dem Strich gute Kosten.“
Doch insgesamt brauche es wieder mehr Kontrolle im System. „Wir Krankenkassen sind ein Korrektiv, wir achten darauf, dass die Beiträge unserer Versicherten sinnvoll eingesetzt werden. Derzeit dürfen wir jedoch nur einen geringen Teil der Krankenhausrechnungen überprüfen und müssen Geld auch dann anweisen, wenn wir wissen, dass die Rechnung Fehler hat.“ Weil die Kassen beispielsweise Hilfsmittel zur Sauerstofftherapie nicht mehr ausschreiben dürften, seien allein Mehrausgaben von 20 Millionen Euro entstanden.
Er erlebe zu häufig, dass immer wieder neues Geld ausgegeben werde, statt Investitionen auf erhoffte Erfolge hin zu überprüfen, kritisiert der Kassenchef. Wältermann warnt vor den Folgen: Wenn Beiträge steigen, ohne dass die Versorgung spürbar besser werde, drohe ein Vertrauensverlust der Menschen. Das Ende des Budgetdeckels für Hausärzte sorge auch nicht für zusätzliche Arzttermine.
Hohe Beiträge: Brennpunkt-Zuschlag für Krankenkassen
Wältermann fordert zudem, dass Krankenkassen mit überdurchschnittlich vielen von Armut bedrohten Versicherten mehr Geld erhalten. Ihre Ausgaben für diese Menschen seien höher: „Menschen aus wenig privilegierten sozialen Umfeldern leben häufig kürzer und sind in der Zeit ihres Lebens zumeist deutlich kränker“, so Wältermann. Das werde aber im aktuellen Finanzierungssystem nicht abgebildet und Lasten in der gesetzlichen Krankenversicherung ungleich verteilt. Etwa jeder sechste Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg bezieht Bürgergeld – unter allen Kassen ist es nur jeder 20.
Dirk Janssen vom BKK-Landesverband Nordwest fordert zudem mehr Steuerung von Patienten, um Ausgaben zu sparen. „Wir müssen den Menschen besser erklären, wo sie mit ihren gesundheitlichen Problemen zuerst hingehen“ - etwa durch Apps oder Videosprechstunden. „Wir müssen mit den Ressourcen im Gesundheitssystem klüger umgehen.“