Gladbeck. Im Ruhrgebiet gibt es eine Million arme Menschen. Ein Gladbecker spricht über Helfer in der Not. Welchen Unterschied macht die EU?
- Am 9. Juni 2024 ist Europawahl. In NRW sind über 13,8 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen.
- In ihren Wahlprogrammen finden die Parteien unterschiedliche Antworten auf die Herausforderungen im Ruhrgebiet.
- Ein Überblick zeigt, welchen Einfluss die EU vor Ort hat.
Dass er sich in Deutschland einmal ums Essen Sorgen machen muss, hätte Tarik A. nicht gedacht. Doch dann standen im Herbst 2023 plötzlich seine Kinder vor der Tür, das Leben bei ihrer suchtkranken Mutter war nicht mehr zumutbar. Tarik A., der wegen einer Lähmung meistens einen Rollstuhl nutzt, bekam damals monatlich 460 Euro nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Genug für sich selbst, zu wenig, um auch die vier Kinder zu ernähren. „Ich bin zur Tafel gegangen, aber manchmal hatte ich trotzdem nur Toastbrot für die Kinder, das waren harte Tage“, erzählt der Gladbecker, der 2010 mit seiner Familie aus der Türkei eingereist war.
Das Jugendamt hat dem 51-Jährigen die „Rebeq GmbH“ empfohlen, eine Tochterfirma der Arbeiterwohlfahrt, die von Armut bedrohte Familien begleitet. A. erfuhr, welche Hilfen es für ihn und seine Kinder gab, um aus der Notsituation herauszukommen. Er erhielt Unterstützung bei der Schulanmeldung und beim Ausfüllen von Behördenanträgen. „Die Kinder können an Ausflügen teilnehmen, die ich mir nicht leisten könnte“, sagt A.. „Ich bin so dankbar für all die Hilfe bei Rebeq und der Awo, die wir bekommen haben.“ Die Notlage ist überwunden: Der Kühlschrank sei gefüllt, die Kinder gingen in die Schule, er selbst suche Arbeit – und eine größere Wohnung, sagt A.. Derzeit lebt die Familie auf zweieinhalb Zimmern.
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Was hat die EU damit zu tun?
Das vom Strukturwandel geprägte Ruhrgebiet kämpft wie kaum eine andere Region in Deutschland mit Armut und dessen Folgen. 22 Prozent der Menschen sind von Armut betroffen, das sind über eine Million Menschen. Fast jedes vierte Kind ist auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen.
In erster Linie sind die Nationalstaaten für Beschäftigungs- und Sozialpolitik zuständig, bestimmen also etwa über Mindestlöhne oder soziale Grundsicherung. Die bekannteste Hilfe der EU, um Armut zu lindern, sind Fördergelder für Beschäftigungsprogramme und soziale Projekte. Seit 60 Jahren gibt es den Europäischen Sozialfonds ESF, über den im letzten Förderzeitraum (2014-2020) fast 85 Euro pro Kopf ins Ruhrgebiet geflossen sind (NRW: 75 Euro). Das Familiencoaching, das A. wieder Perspektive gegeben hat, wird durch den ESF Plus mit ermöglicht.
Armutsbekämpfung gehört seit den 70er-Jahren zu Zielen der EU. 2017 haben Kommission, Rat und Parlament eine „Europäische Säule sozialer Rechte“ verkündet, mit der sie sich für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen in der gesamten EU einsetzen wollen. Dazu hat sie eine Reihe von Initiativen auf den Weg gebracht, etwa eine nicht verbindliche Richtlinie über Mindestlöhne, um Armut unter Beschäftigen zu mildern.
Was könnte sich mit der Wahl ändern?
Die CDU/CSU will im Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit erreichen, dass Abschlüsse junger Menschen einfacher innerhalb der EU anerkannt werden. Sozialleistungen für Asylbewerber sollen sich innerhalb der EU annähern.
Die Grünen haben Gerechtigkeit zu einem Schwerpunkt ihres Wahlprogramms gemacht. Sie wollen EU-weit soziale Mindestsicherungen stärker als bislang regeln, gegen hohe Mieten vorgehen und die Rechte von Arbeitnehmern stärken. Aufbauend auf einem Corona-Kriseninstrument soll eine neue Arbeitslosenrückversicherung nationale Arbeitslosenversicherungen in der Krise stabilisieren.
Die SPD will ebenfalls stärker soziale Mindeststandards für die jeweiligen nationalen Grundsicherungssysteme festlegen. Sie will die Sozialfonds mit mehr Geld ausgestattet und Investitionen in sozialen Wohnungsbau erleichtert sehen.
Die AfD ist gegen soziale Mindeststandards in den EU-Mitgliedstaaten und will die Freizügigkeit als eine Grundfreiheit der EU für mutmaßliche Armutsmigranten einschränken. Schon jetzt stehen Sozialleistungen EU-Ausländer nicht bedingungslos zu.
Die Linke will ein europäisches Mindesteinkommen und eine europäische Erwerbslosenversicherung durchsetzen und erreichen, dass soziale Standards in den EU-Ländern nur nach oben angeglichen werden dürfen.
Die FDP ist überzeugt, dass Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Aufgabe der Mitgliedstaaten ist und nennt wenig sozialpolitische Ziele. Eine Ausnahme ist eine Kindergeld-Reform. Die Leistung soll an den Lebenshaltungskosten in dem Land bemessen werden, in dem das Kind lebt.
Das neue Bündnis Sahra Wagenknecht findet, dass die Union den Ländern sozialpolitisch nicht hineinreden sollte. Statt mehr EU-Gelder in Sozialfonds zu verteilen, sei Not für allerhand Reformen, damit die Länder selbst Förderprogramme ausbauen können.