Berlin. .

Gerade einmal die Hälfte aller Abiturienten macht sich vor dem Abschluss Gedanken über die berufliche Zukunft – ein nicht zu unterschätzender Fehler. Die Absolventen sollten sich bei der Berufswahl stattdessen frühzeitig auf ihre Stärken besinnen, finden Berufsberater.

„Ich hätte damals sogar Medizin studieren können“, erzählt Ina Walter. „Doch ich wusste nicht, dass mir die Zeit nach dem Abi als Wartezeit angerechnet wird.“ Gänzlich unvorbereitet stürzte sich die 32-jährige Wahlberlinerin damals in das Unileben. Letztendlich entschied sie sich für den Studiengang Lebensmitteltechnik. Mittlerweile sechs Jahre studiert sie das Fach und ist sich immer noch nicht ganz sicher, ob das der richtige Weg ist. So wie Ina Walter geht es vielen jungen Menschen. Ohne genau zu wissen, welcher Job für sie der richtige ist, gehen sie nach dem Abi der Arbeitswelt entgegen.

Aufschieben und bloß nicht an später denken, das scheint unter deutschen Oberstufenschülern eine gängige Strategie – zumindest was die Berufsplanung angeht. Knapp jeder zweite Schüler macht sich erst im letzten Jahr vor dem Abschluss darüber Gedanken, wie der weitere Bildungsweg aussehen soll. Jeder Zehnte hat sich sogar ein halbes Jahr vor dem Abi noch nicht mit dem Thema beschäftigt. Das hat eine Befragung des Hochschul-Informations-Systems (HIS) ergeben. Dabei riskieren Jugendliche, die unvorbereitet ins Berufsleben gehen, unnötige Enttäuschungen.

Studienabbrüche könnten vermieden werden

„Viele Studienabbrüche und manches Unglück kann man vermeiden, wenn man zumindest in etwa die Zielrichtung weiß“, sagt die Münchner Karriereberaterin Madeleine Leitner. „Natürlich hat die Abiprüfung Priorität, aber man sollte sich möglichst bald und intensiv mit der Zeit danach beschäftigen.“ Es gehe schließlich um den Rest des Lebens.

Jugendlichen, die auf der Suche nach dem passenden Job sind, empfiehlt die Psychologin, zuerst einmal drei bis fünf Jobideen zu entwickeln und diese dann zu prüfen. Wer in die Betriebe hineinhöre, erfahre, wie der berufliche Alltag aussieht, welche Aufstiegschancen es gibt oder welche Ansprüche mit dem Job verbunden sind. Informationsveranstaltungen an Universitäten findet Leitner weniger hilfreich. „Dort ist häufig nur Hochschulpersonal anwesend“, bemängelt die Beraterin. „Die wenigsten möchten aber Professor werden.“

„Menschen sind oft betriebsblind für das, was sie am besten können“

Vielen jungen Menschen fällt es schwer zu entscheiden, welchen beruflichen Weg sie einschlagen sollen. Nur sieben Prozent der Jugendlichen gaben bei der HIS-Befragung an, keine besonderen Schwierigkeiten bei der Wahl des künftigen Werdegangs zu haben. Wer auf der Suche nach dem Traumjob ist, sollte zu allererst genau wissen, wo die eigenen Talente liegen. „Erst wenn ich meine Fähigkeiten kenne, kann ich auf Jobsuche gehen“, erklärt Leitner. Wo die eigenen Stärken liegen, lässt sich jedoch nicht immer einfach herausfinden. „Menschen sind oft besonders betriebsblind für das, was sie am besten können“, so die Psychologin. „Was sie gut können, ist für sie so selbstverständlich, dass es ihnen nicht auffällt.“

Auf die Suche nach den eigenen Talenten müssen sich Schüler nicht allein begeben. Unterstützung bekommen sie von Berufs- oder Studienberatern. Und auch im Internet gibt es Hilfe, etwa den Online-Test Borakel der Ruhruni Bochum. Er findet sich auf www.ruhr-uni-bochum.de/borakel.

Welches die starken Seiten ihrer Klienten sind, erfährt Beraterin Leitner übrigens, indem sie deren Leben analysiert. Ein unglücklicher Jurist habe so etwa von seinem Vertriebstalent erfahren. Als Student hatte er einmal eine Konferenz organisiert. Das sei ihm so mühelos gelungen, dass ihm das Talent gar nicht aufgefallen sei. Heute ist er Berater für Anwaltskanzleien – und um einiges glücklicher.