Düsseldorf. Hundert Frauen aus der Wirtschaft zeichnet die Initiative „BeyondGenderAgenda“ aus – um für Chancengleichheit und Vielfalt zu sorgen.
Auch nach 30 Jahren Management-Erfahrung muss sich Dr. Sigrid Nikutta noch mit „Mansplaining“ herumschlagen – mit Männern die Frauen die Welt erklären wollen. Nikutta ist Vorständin bei der Deutschen Bahn, zuständig für Güterverkehr. „Man möchte gerne mehr Frauen im Unternehmen haben, aber eine gewisse Harmlosigkeit sollte den Managerinnen bitte innewohnen“, sagt Nikutta sarkastisch. Nicht nur die Frauen im Publikum schmunzeln. Entschlossenheit, Sachorientiertheit und Leistungsstärke werde bei Frauen schnell mit Aggressivität oder Bockigkeit gleichgesetzt. Ihr Rat an werdende Chefinnen: „Augen zu und durch. Nicht von Unterschätzungen beirren lassen, mutig in das vertrauen, was man individuell für richtig hält.“
Das Publikum applaudiert. Das Netzwerk „BeyondGenderAgenda“ hat am Donnerstagabend nach Düsseldorf geladen, um hoch oben in der Deutschlandzentrale des Kosmetikkonzerns L’Oréal bei Drinks und „Flying Dinner“ über Frauenquoten, „Rabenmütter“, Kitaplätze und Fachkräftemangel zu diskutieren. Mit seiner Kampagne „Top 100 Women for Diversity“ zeichnet die Organisation ebenso viele weibliche Vorbilder aus der deutschen Wirtschaft aus. Nikutta ist eine von ihnen.
„Die Stärkung von Frauen liegt in meiner DNA“
Die Schirmherrschaft der Kampagne übernimmt Schauspielerin Natalia Wörner. Die Stärkung von Frauen sei für sie ein persönliches Herzensthema und liege, wie sie selbst betont, in ihrer DNA. „Ich bin in einem rein weiblichen Viergenerationenhaushalt aufgewachsen – ohne Geschlechterhierarchien und mit einer eher unideologisch geprägten Emanzipation“, erklärt Wörner. „Top 100 Women for Diversity” zeichne Frauen aus, die genau diese Werte leben und als Vorbilder weitertragen.
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Inflation, Krieg, Klimakrise, Pandemie – bleibt da überhaupt noch Zeit, um über Vielfalt zu sprechen? „Ich kann nicht mehr hören, dass solche Themen gerade einfach keine Priorität haben“, sagt Victoria Wagner, Gründerin des Netzwerks. Zahlen belegen, dass der Weg zu diesem Ziel noch lang ist. „Im Dax 40 sind derzeit nur fünf Prozent aller CEOs Frauen“, betont Wagner. Laut dem „Global Gender Gap Report 2022“ des World Economic Forums dauere es noch 132 Jahre, bis Männer und Frauen weltweit die gleichen Gehälter, Chancen und Rechte haben werden.
Mehr Frauen werden in technischen Berufen gebraucht
Doch nicht nur in CEO-Positionen ist der Frauenanteil auch im Jahr 2023 in vielen Branchen knapp. Als Stellvertreterin für Frau im Ingenieurwesen tritt Kenza Ait Si Abbou ans Mikrofon, Director Client Engineering bei IBM für die deutschsprachigen Länder. „Wir können bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz nicht auf 50 Prozent der Bevölkerung verzichten“, betont sie. Die Folgen von fehlenden weiblichen Kräften in IT-Unternehmen seien gravierend. Dabei zeige die Belegschaft in weiblich dominierten Unternehmen wie L’Oréal, dass es machbar ist, auch in technischen Bereichen Geschlechterdiversität umzusetzen.
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„In unserer Fabrik in Karlsruhe arbeiten viele Ingenieure, aber auch viele Ingenieurinnen“, sagt Stefan Geister, Leiter der Unternehmenskommunikation bei L’Oréal DACH. Auch die Geschäftsführerin der Fabrik sei eine Frau. „In unseren Wissenschaftsabteilungen arbeiten weltweit 4.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, davon sind 64 Prozent weiblich“, so Geister. Um die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden zu erfüllen, müsse man im Unternehmen so vielfältig sein wie die Welt da draußen auch. Bei dem Kosmetikkonzern sorge dafür ein „umfassender Maßnahmenmix“, der das Ziel habe, dass sich Jede und Jeder sowohl privat als auch beruflich entfalten könne. Zum Beispiel: Karriere und Familienplanung zu vereinen.
„Unsere Gesellschaft fängt an zu schrumpfen“
Aber wie kann Gleichberechtigung von Mann und Frau im Beruf stattfinden, wenn einer von beiden – meist die Frau – für eine Zeit aussetzen muss, sobald ein Kind ins Spiel kommt? Müssen noch mehr Teilzeitmodelle geschaffen werden, obwohl wir in Deutschland bereits die vierthöchste Teilzeitquote in ganz Europa haben?
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Darauf kommt ein Mann zu sprechen: Sebastian Dettmers, Chef der Job-Plattform Stepstone. „Wir haben eine Krise, die wir völlig unterschätzen: Unsere Gesellschaft fängt an zu schrumpfen“, stieg Dettmers in seine Rede ein. In keinem einzigen Land in Europa bekämen Frauen noch ausreichend Kinder, um die bestehende Bevölkerung stabil zu halten. Gründe dafür seien Wohlstand, Gleichberechtigung und Bildungschancen, also alles Dinge die gut sind und auf die niemand verzichten wolle. Müsse man auch nicht, wenn es in Deutschland eine vernünftige Kinderversorgung, also ausreichend Kitaplätze und eine ordentliche Bezahlung jener gebe, die sich um die Kinder kümmern sollen.