Essen. Erste Labor-Chicken-Nuggets gibt es in Singapur, in USA naht die Zulassung. In Europa droht die Fleischrevolution an den EU-Hürden zu scheitern.

Deutschland ist in vielen Bereichen Technologie- und Innovationsführer, in der Lebensmittelindustrie eher selten. Schon bei der Entwicklung pflanzlicher Fleischersatzprodukte waren US-Start-ups und in Europa die Niederländer vorn, deutsche Hersteller zogen erst nach, als die ersten amerikanischen „Beyond-Meat“-Burger in den Supermarktregalen lagen. Nun drohen sie den nächsten Megatrend zu verpassen: kultiviertes Fleisch aus tierischen Zellen, kurz: Laborfleisch.

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Dies allerdings aus gutem Grund: In Europa hat es das Fleisch aus dem Bioreaktor schwerer als in Asien und Amerika, für den Verzehr zugelassen zu werden. Das beklagen der Geflügel-Marktführer Wiesenhof und der Düsseldorfer Großhändler Metro auf Anfrage unserer Redaktion. Beide haben schon länger die Entwicklung von kultiviertem Fleisch, für das keine oder nur wenige Tiere geschlachtet werden müssen, im Blick. Und fordern seitdem forschungsfreundlichere Bedingungen in Deutschland.

Klimaeffekt noch unklar

Laborfleisch gilt neben pflanzlichen Imitaten als zukunftsträchtigste Alternative – vor allem für Vegetarier, die aus ethischen Gründen kein Fleisch essen. Doch bisher sterben auch für Laborfleisch Tiere, zumindest Säugetiere, denn es braucht Stammzellen und Nährlösung, die von lebenden Tieren, teils Föten, gewonnen werden. Geflügel-Stammzellen lassen sich dagegen auch aus Eiern gewinnen.

Was wegfallen würde, wäre die flächenintensive und wenig artgerechte Massentierhaltung sowie die industrielle Schlachtung. Ob und wie viel klimafreundlicher kultiviertes Fleisch gegenüber herkömmlichem wäre, ist dagegen noch nicht ausreichend erforscht. Den Einsparungen in der Mast und Tierhaltung stehen hohe Energiemengen gegenüber, die es für die Produktion im Labor braucht.

Tierwohl als Argument für kultiviertes Fleisch

„Zellkultivierung ermöglicht einen nachhaltigeren Fleischkonsum mit Blick auf die großen Herausforderungen im Bereich von Tierwohl, Agrarflächennutzung et cetera. Deswegen ist das Thema auch für uns als Food-Spezialisten relevant“, sagte Clement Tischer unserer Zeitung. Er kümmert sich in der Metro-Tochter NX-Food um Lebensmittelinnovationen.

Im Zukunftslabor von Deutschlands führendem Großhändler ist man bisher davon ausgegangen, dass Laborfleisch zum Ende dieses Jahrzehnts reif für den Massenmarkt sein könne. Doch die vergangenen Jahre haben Optimismus gekostet: „Das große Fragezeichen hier in der EU ist der regulatorische Rahmen, das ist in anderen Ländern deutlich weniger kompliziert. Zulassungsverfahren dauern etwa in Singapur manchmal nur Wochen, in der EU teilweise Jahre“, so Tischer.

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Bei Laborfleisch denken viele zuerst an Rindfleischburger aus Zellkulturen, 2013 wurde der erste medienwirksam in London vorgestellt. Doch in der Entwicklung hat kultiviertes Hühnerfleisch das Rind überholt. Daraus hergestellte Chicken Nuggets sind das erste und bisher einzige Laborfleisch-Produkt weltweit, das zum Verzehr verkauft werden darf. Und das auch nur im experimentierfreudigen Singapur. Allerdings naht auch in den USA die Zulassung von Zellhuhn.

Auch der deutsche Geflügel-Marktführer Wiesenhof hat das Potenzial der neuartigen Produkte, deren Erfinder nicht weniger als die Fleischrevolution planen, früh erkannt. Bereits 2018 ist Wiesenhof beim israelischen Start-up Supermeat eingestiegen. Die Pioniere aus Tel Aviv gewinnen Stammzellen aus Hühnereiern und züchten daraus Fleischstücke. Im Falle einer europäischen Zulassung könne man „umgehend entsprechende Produkte entwickeln, herstellen und vermarkten“, erklärte die Wiesenhof-Mutter PHW auf Anfrage unserer Zeitung selbstbewusst.

Zulassung wird für Wiesenhof in Europa besonders schwer

Allein: Eine solche Zulassung, die PHW anstrebt, aber noch nicht beantragt hat, ist bisher nicht in Sicht. Die Branche fürchtet jahrelange Verfahren in Brüssel mit seinen traditionell kritischen Lebensmittelwächtern. „Der kommerzielle Durchbruch von Cultivated Meat auf unserem Heimatmarkt, Deutschland, ist aus heutiger Sicht schwer absehbar“, heißt es daher aus der PHW-Gruppe.

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Wiesenhof-Chef Peter Wesjohann wurde unlängst noch deutlicher: „Wenn da nicht etwas mehr Tempo gemacht wird in Brüssel, wird es am Ende so sein, dass die Genehmigung in den USA und in Asien vorliegt zum Verkauf und wir hier in Europa mal wieder zu spät dran sind”, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung. Ansonsten könne er sich gut vorstellen, in Deutschland eine Laborfleisch-Fabrik zu bauen.

Nährlösung ist bisher nicht tierfreundlich

Noch ist die Herstellung freilich nicht ausgereift. Der niederländische Burger-Pionier Mosa Meat, der vor neun Jahren das ersten Laborpatty brutzelte, arbeitet vor allem daran, die tierische Nährlösung für die entnommenen Zellen durch pflanzliche zu ersetzen. Zuerst wurde sie aus den Herzen ungeborener Kälber gewonnen, was wenig appetitlich und tierfreundlich ist, inzwischen lässt sie sich aus Schweine- und Rinderknochen gewinnen. Weil auch dafür Tiere sterben müssen, ist das Ziel, die Zellen in rein pflanzlichen Lösungen zu vermehren. Die Zellen selbst stammen aus Muskelgewebeentnahmen per Nadel von lebenden Tieren, die laut Mosa „nahezu schmerzfrei“ ablaufen sollen.

Seit 2020 verkauft in Singapur das Restaurant „1880“ Chicken-Nuggets des US-Start-ups Eat Just, die aus kultiviertem Hähnchenfleisch, aber auch pflanzlichen Ersatzstoffen bestehen, damit sie bezahlbar sind. Umgerechnet zwölf Euro nahm das „1880“ zuletzt für eine Portion, die freilich nur aus einem Chicken Nugget und Beilagen besteht. Auch dieser Preis dürfte noch vom Hersteller subventioniert sein, denn „Eat Just“ gibt selbst an, die Herstellungskosten für ein Nugget Laborhühnerfleisch von anfang 1000 auf 50 US-Dollar gesenkt zu haben.

Zu den Kapitalgebern zählt auch Bill Gates

Aufgrund der geringen Mengen im Forschungsstadium bleibt Laborfleisch noch auf Jahre ein reines Zukunfts-Invest, mit dem sich frühestens in einigen Jahren Geld verdienen lässt. Hohe Millionen-Investitionen namhafter Kapitalgeber, darunter auch Bill Gates und Hollywood-Star Leonardo di Caprio, zeigen aber, dass die Hochfinanz fest daran glaubt. Die Hersteller wie Eat just und Mosa Meat versprechen ihnen, in der Massenproduktion auf Preise zu kommen, die auf dem Niveau von Premiumfleisch aus herkömmlicher Produktion liegen.

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HANDOUT - Ein Handout vom 04.08.2013 zeigt künstliches Fleisch aus dem Labor von Professor Mark Post der Universität Maastricht bei einer Produktpräsentation in London, (England). Das künstliche Fleisch - auch In-Vitro-Fleisch genannt - entsteht, indem tierische Muskelzellen im Labor wachsen. Daran wird vor allem in den USA und in den Niederlanden geforscht. 2013 gab es in London eine Art Testessen mit einer aus Stammzellen erzeugten Frikadelle. Zu kaufen gibt es Laborfleisch noch nicht. (zu dpa
Von Andreas Böhme und Christopher Onkelbach

Auch in den USA ist die Zulassung auf der Zielgeraden: Die oberste Lebensmittelbehörde FDA hat vor kurzem im Labor gezüchtetes Hähnchenfleisch grundsätzlich für verzehrfähig erklärt. Man habe nach „eingehenden Untersuchungen“ keine weiteren Fragen mehr an den Hersteller „Upside Foods“, erklärte die FDA. Verkauft werden darf es aber erst, wenn auch das US-Agrarministerium zustimmt. Die FDA geht aber fest davon aus: Sie sei bereit, mit weiteren Herstellern von Laborfleisch zusammenzuarbeiten, und erwarte, dass solche Lebensmittel „in naher Zukunft für den US-Markt bereit sein werden“.

Starke Agrarlobby in Brüssel als Zulassungshürde

Von diesem Punkt ist die Laborfleisch-Branche in Europa noch weit entfernt. Brüssel schaut sich neuartige Lebensmittel nicht nur sehr genau und kritisch an, was aus Verbrauchersicht auch geboten ist. In der EU neigen auch die großen Agrarländer wie Frankreich, Spanien und Deutschland dazu, ihre heimischen Landwirte vor neuer Konkurrenz zu schützen, was beim Einstimmigkeitsprinzip der EU eine hohe Vetogefahr birgt.

„Europa bietet unserer Ansicht nach aus zwei Ursachen im globalen Vergleich weniger attraktive Standortfaktoren für Cultivated-Meat-Hersteller“, erklärt die Wiesenhof-Mutter PHW: Regulative Hürden und auch „Finanzierungsaspekte“. Damit meint der Konzern etwa staatliche Forschungsmittel. Laut Bundesregierung förderte sie den den Bereich Cultivated Meat bisher mit rund 1,2 Millionen Euro. Dagegen habe die niederländische Regierung 60 Millionen Euro in den Aufbau eines Innovationshubs investiert.

Metro fordert mehr Forschung in Deutschland

Auch Großhändler Metro sieht Nachholbedarf, schließlich könne man noch nicht sicher sagen, ob sich die Produktion so hochskalierbar sei, dass sie sich rechnet, sagt Metros Innovations-Chef Tischer – und betont: „In jedem Fall wird an vielen Stellen in vielen Ländern dazu geforscht – in Deutschland bisher leider nicht.“ Die Politik solle der Relevanz von Fleisch aus Zellkulturen mehr Augenmerk schenken und die passenden Rahmenbedingungen schaffen.