Essen/Castrop-Rauxel. Die Stadtwerke Castrop-Rauxel kündigen reihenweise Strom- und Gasverträge. Nun soll Eon die Kunden zeitweise übernehmen. Das löst Streit aus.

Vor wenigen Tagen hat sich der Bürgermeister der Stadt Castrop-Rauxel mit einer Videobotschaft zu Wort gemeldet. Mit ernster Miene spricht Rajko Kravanja auf der Online-Plattform Facebook von der Energiekrise, von Strom- und Gaspreisen und einem „ungewöhnlichen Weg“, den seine Kommune gehen wolle. Denn die Stadtwerke vor Ort seien nicht mehr in der Lage, die Menschen „günstig mit Strom zu versorgen“, sagt Kravanja. Der Versorger, der mehrheitlich der Stadt und knapp zur Hälfte dem benachbarten Unternehmen Gelsenwasser gehört, plane nun Kündigungen von Energieverträgen. Für die betroffenen Kundinnen und Kunden deute dies, dass sie erst einmal in die Grundversorgung kommen. Wenn sich die Lage wieder entspanne, so das Kalkül von Kravanja, könnten die Stadtwerke die Betroffenen wieder zurückholen. Mit der „Bitte um Vertrauen“ endet die Botschaft.

Die Stadtwerke Castrop-Rauxel bestätigen, dass sie sämtliche Strom- und Gasverträge mit Preisgarantie zum Jahreswechsel gekündigt haben. Um mehr als 4000 Verträge handle es sich. Der kommunale Versorger habe sich zu diesem Schritt entschieden, um eine Schieflage des Unternehmens zu vermeiden, erklärt Stadtwerke-Geschäftsführer Jens Langensiepen. „Ohne die Kündigung der Verträge mit Preisgarantie bestünde ein nicht kalkulierbares Risiko, welches zu Verlusten führen könnte, die im Zweifel auch existenzbedrohend hätten sein können“, sagte Langensiepen unserer Redaktion.

Stadtwerke-Chef beschreibt Lage am Energiemarkt als „dramatisch“

„Die aktuelle Lage am Energiemarkt stellt sich leider ausgesprochen dramatisch dar“, heißt es in Schreiben der Stadtwerke, die unserer Redaktion vorliegen. „Die Börsenpreise für Energie haben sich innerhalb eines Jahres in etwa verzehnfacht, zwischenzeitlich gar verzwanzigfacht.“ Daher seien Preisanhebungen zum Jahreswechsel erforderlich. Allerdings zeigen die Stadtwerke den Verbrauchern einen Weg auf, der nach Darstellung des kommunalen Versorgers eine Art Ausweg bietet: Die Stadtwerke empfehlen ihren Kundinnen und Kunden einen zumindest vorübergehenden Wechsel zum Grundversorger Eon. Eine Vollmacht, die dafür unterzeichnet werden müsse, ermögliche einen automatischen Wechsel zurück, sobald die Preise der Stadtwerke niedriger sein sollten als die Eon-Grundversorgung.

Die Preisunterschiede der Versorger sind selbst innerhalb des Ruhrgebiets zum Teil erheblich. So nimmt Deutschlands größter Energiekonzern Eon als Grundversorger beim Strom derzeit in Castrop-Rauxel 30,85 Cent pro Kilowattstunde (kWh). Zum Vergleich: Die örtlichen Stadtwerke verlangen ab Januar rund 70 Cent. Die Bundesregierung plant allerdings eine Deckelung des Strompreises bei 40 Cent.

„Überraschenderweise liegen die Preise des örtlichen Grundversorgers, Stand heute, noch auf einem deutlich geringeren Niveau als der übliche Markt“, heißt es in dem Schreiben der Stadtwerke Castrop-Rauxel an die Haushalte. „Als kommunaler Versorger empfinden wir eine besondere Verantwortung für unsere Kundinnen und Kunden und möchten Ihnen daher eine ungewöhnliche Maßnahme anbieten: 1. Sie bevollmächtigen uns, den aktuellen Stromliefervertrag mit uns zum 31. Dezember 2022 zu kündigen. Sie werden damit zum 1. Januar 2023 automatisch vom Grundversorger, aktuell Eon Energie Deutschland GmbH, aufgenommen. 2. Ab dem 1. Januar 2023 werden wir für Sie regelmäßig die Preise des Grundversorgers mit unseren jeweils aktuellen Preisen vergleichen. 3. Sobald wir Ihnen wieder günstigere Preise als der Grundversorger anbieten können, schließen wir mit Ihnen einen neuen Stromliefervertrag ab.“

Eon plant juristische Schritte gegen die Stadtwerke

Das Eon-Management zeigt sich verärgert. In einem Brief an Stadtwerke-Chef Langensiepen, der unserer Redaktion vorliegt, kündigt Eon-Deutschlandchef Filip Thon an, sein Unternehmen wolle juristisch gegen den Versorger aus Castrop-Rauxel vorgehen. „Dass sich Ihr Unternehmen durch solch ein – aus unserer Sicht höchst unsolidarisches – Verhalten bewusst der Verantwortung für unsere Gesellschaft entzieht und die Last in schwierigen Zeiten einseitig abwälzen möchte, ist für uns in keiner Weise nachvollziehbar“, kritisiert Thon in dem Brief. „Und solch ein Verhalten ist erst recht nicht im Sinne der Kunden“, so Thon weiter. „Sie bringen mit diesem Verhalten aus unserer Sicht ein Kundenverständnis zum Ausdruck, welches Kunden in der Krise als reine Verschiebemasse betrachtet.“ Auf Anfrage unserer Redaktion erklärte Eon, derzeit werde geprüft, ob der Konzern eine Unterlassungserklärung oder eine Abmahnung anstrebe. Klar sei, dass Eon gegen die Stadtwerke vorgehen werde.

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Jens Langensiepen stellt seinen Vorstoß indes als innovatives Modell dar. „Dass ein Energieversorger Verträge mit Preisgarantie kündigt, ist kein Novum, dafür gibt es zahlreiche weitere Beispiele in der aktuellen Zeit“, sagt er. „Das Angebot, Kunden per Vollmacht temporär zum Grundversorger zu bringen, mit der automatischen Option zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukehren, haben wir so noch nirgendwo wahrgenommen. Das scheint außergewöhnlich zu sein.“ Die Stadtwerke hätten „auch eine Verantwortung dafür, dass Energie bezahlbar bleibt, auch wenn das heißt, Kunden zeitweise nicht mehr selbst zu beliefern“.