Essen. Thyssenkrupp will erstmals seit Jahren wieder eine Dividende zahlen. Aber der Blick nach vorn beunruhigt. Die Unsicherheiten sind groß.

Auf der theatergroßen Bühne im Essener Konzernquartier hat die Thyssenkrupp-Regie die Geschäftszahlen mit teils futuristisch anmutenden Fotos von Fabriken, Stahlerzeugnissen und Windrädern garniert. Über dem Rednerpult der Vorstandschefin leuchten blaue Pfeile, die allesamt nach oben zeigen. In grün sind die prozentualen Steigerungen für Auftragseingang, Umsatz und Betriebsgewinn dargestellt. Als Martina Merz im November 2019 am selben Ort die Geschäftsergebnisse vorstellte, zeigten die meisten Pfeile noch nach unten – und die Prozentzeichen waren tiefrot. „So wie bisher kann es nicht weitergehen“, sagte Merz, als sie überraschend als erste Frau die Führung von Thyssenkrupp übernommen hatte. Drei Jahre später ist ihr Anliegen nun, unter Beweis zu stellen, dass nicht alles, aber vieles besser geworden ist im jahrelang schwer angeschlagenen Konzern.

Wenn Martina Merz über den Umbau von Thyssenkrupp spricht, über Firmenverkäufe, Stellenabbau, eine veränderte Führungsstruktur und Investitionen, dann wählt sie immer wieder den Begriff „Transformation“. Für das,

Martina Merz hat im November 2019 die Führung von Thyssenkrupp übernommen.
Martina Merz hat im November 2019 die Führung von Thyssenkrupp übernommen. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

was erforderlich sei, würden „mindestens drei Jahre“ gebraucht, habe sie zu Beginn ihrer Amtszeit erklärt. „Das war vor Corona, das war vor der Halbleiterkrise, und das war vor allem vor dem schrecklichen Krieg in der Ukraine“, sagt sie. Nach drei Jahren zieht Merz nun „eine positive, aber auch selbstkritische“ Zwischenbilanz. „Wir haben nicht alles geschafft, was wir uns vorgenommen haben“, räumt die Thyssenkrupp-Chefin ein. „Aber wir haben Fortschritte gemacht.“

„Externe Schocks“ wie der Krieg und die Pandemie hätten Thyssenkrupp „bei großen strategischen Themen ausgebremst“, so Merz. Die Verselbstständigung der aus Duisburg geführten Stahlsparte kommt derzeit ebenso wenig voran wie der angestrebte Börsengang der Dortmunder Wasserstoff-Tochterfirma Nucera. Marc Tüngler von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) sagt dazu, „die großen Fragen bei Thyssenkrupp sind weiter unbeantwortet“.

Was Martina Merz vorweisen kann: Nach drei Nullrunden will Thyssenkrupp wieder eine Dividende zahlen. Für das zurückliegende Geschäftsjahr 2021/22 sprechen sich Vorstand und Aufsichtsrat für eine Dividende von 15 Cent je Aktie aus. Möglich werde dies durch eine „deutlich gestärkte Bilanz“ und eine „verbesserte Leistungsfähigkeit“ des Unternehmens. Die Zustimmung der Hauptversammlung am 3. Februar gilt als wahrscheinlich. Das Aktionärstreffen soll abermals digital stattfinden – und nicht wie in den Vor-Corona-Jahren in Bochum, wie das Unternehmen auf Anfrage bestätigt.

Rund 93 Millionen Euro für die Thyssenkrupp-Aktionäre

Zuletzt hat Thyssenkrupp für das Geschäftsjahr 2017/18 eine Gewinnausschüttung vorgenommen – ebenfalls in Höhe von 15 Cent je Aktie. Mit dieser Dividendenhöhe würden den Anlegern insgesamt knapp 93,38 Millionen Euro zukommen. An die Essener Krupp-Stiftung – mit einem Anteil von rund 21 Prozent größte Einzelaktionärin – würden rund 19,6 Millionen Euro fließen.

Die Krupp-Stiftung, die 2023 mit 150 Jahren Villa Hügel ein besonderes Jubiläum feiert, hatte bereits vor Monaten erklärt, es sei „Zeit für eine Dividende“. Die Stiftung reagierte erfreut auf die Nachricht aus dem

Die theatergroße Bühne im Essener Konzernquartier – mit teils futuristisch anmutenden Fotos von Fabriken, Stahlerzeugnissen und Windrädern.
Die theatergroße Bühne im Essener Konzernquartier – mit teils futuristisch anmutenden Fotos von Fabriken, Stahlerzeugnissen und Windrädern. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Konzernquartier. „Das abgeschlossene Geschäftsjahr zeigt, dass Thyssenkrupp die beschlossene Strategie konsequent und zielgerichtet verfolgt“, heißt es in einer Mitteilung der Stiftung, die von Kuratoriumschefin Ursula Gather geführt wird. „Das Unternehmen hat das Potenzial, wieder nachhaltig wettbewerbs- und damit langfristig dividendenfähig zu werden.“

Ingo Speich von der Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka urteilt, die Zahlung einer Dividende sei „ein positives Signal“, aber „auch eine sehr mutige Entscheidung in der derzeitig fragilen Lage des Konzerns“. Ähnlich äußert sich DSW-Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler: „So erfreulich es ist, dass eine Dividendenzahlung wieder aufgenommen wird, so schwer wiegen weiterhin die Probleme des Konzerns.“

Für das vergangene Geschäftsjahr kann der Thyssenkrupp-Vorstand jedenfalls einen Gewinnsprung vorweisen: Der Jahresüberschuss erreicht 1,2 Milliarden Euro – nach einem Verlust von 25 Millionen Euro im Vorjahr. Doch auch im Geschäftsjahr 2021/22, das im September zu Ende ging, hat Thyssenkrupp bei einer wichtigen Finanzkennziffer ein Minus verbucht: Der „Free Cashflow vor M&A“, also das verfügbare Geld ohne eine Berücksichtigung der Einnahmen aus Firmenverkäufen, ist negativ. Mit minus 476 Millionen Euro fiel der Wert, der viel über die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Konzerns aussagt, aber besser aus als im Vorjahr.

„Spielraum für eine Dividende“

Beharrlich hat Vorstandschefin Merz stets betont, das nächste Etappenziel sei „ein ausgeglichener Cashflow“. „Dem werden wir alles, was notwendig und vertretbar ist, unterordnen“, sagte sie vor einem Jahr bei der Bilanzvorlage. Schon im November 2020 hatte die Managerin in englischer Sprache formuliert: „Stop the Bleeding.“ Ein finanzielles Ausbluten des Konzerns durch einen weiteren Mittelabfluss müsse verhindert werden. Merz und Thyssenkrupp-Finanzchef Klaus Keysberg beteuern, mit der aktuellen Bilanz biete sich nun den „Spielraum für eine Dividende“. Sie werde „nicht aus der Substanz“ des Konzerns gezahlt, sagt Keysberg.

Trotz des Kriegs in der Ukraine hat Thyssenkrupp eigenen Angaben zufolge Auftragseingänge in Höhe von insgesamt rund 44,3 Milliarden Euro erzielt – ein Plus von zwölf Prozent im Vorjahresvergleich. Der Umsatz verbessert sich um 21 Prozent auf 41,1 Milliarden Euro. Das Betriebsergebnis („bereinigtes Ebit“) habe Thyssenkrupp auf 2,1 Milliarden Euro nahezu verdreifacht. Insbesondere die Stahlsparte mit großen NRW-Standorten in Duisburg, Bochum und Dortmund trug zum Gewinnsprung bei.

Nahezu zeitgleich zum Thyssenkrupp-Vorstand meldet Stahl-Gesamtbetriebsratschef Tekin Nasikkol zu Wort – und zeigt sich erfreut darüber, dass NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) als Ehrengast an einer Betriebsversammlung teilgenommen hat. Die Landesregierung will den Aufbau einer grünen Stahlproduktion auch finanziell unterstützen.

„Es kann noch niemand sagen, wie groß die Herausforderungen werden“

Die Aussichten der Stahlsparte haben sich allerdings insbesondere durch die Energiekrise verdüstert. Stark ist zudem die Abhängigkeit von der Automobilindustrie. „Es kann noch niemand sagen, wie groß die Herausforderungen werden oder wie lange sie anhalten werden“, so Finanzchef Keysberg. Er kündigt an, bei Investitionen werde künftig „restriktiver“ agiert. Zuletzt hat Thyssenkrupp unter anderen erheblich in der Stahlsparte investiert, beispielsweise in eine neue Feuerbeschichtungsanlage für die Dortmunder Westfalenhütte.

Investitionen auf der einen Seite, Kostensenkungen auf der anderen: Von den angestrebten bis zu knapp 13.000 Stellen, die wegfallen sollen, seien inzwischen 9950 Stellen abgebaut worden – rund 2100 davon im abgelaufenen Geschäftsjahr, berichtet Personalvorstand Oliver Burkhard. „Innerhalb unseres Transformationsprozesses haben wir inzwischen rund 80

Auf dem Weg zur Pressekonferenz im Thyssenkrupp-Quartier: Martina Merz und ihre Vorstandskollegen Klaus Keysberg (links), Oliver Burkhard (zweiter von rechts) und Kommunikationschef Peter Sauer.
Auf dem Weg zur Pressekonferenz im Thyssenkrupp-Quartier: Martina Merz und ihre Vorstandskollegen Klaus Keysberg (links), Oliver Burkhard (zweiter von rechts) und Kommunikationschef Peter Sauer. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Prozent des vorgesehenen Personalabbaus umgesetzt“, sagt er. „Die für den Umbau notwendige Restrukturierungsphase lassen wir so langsam hinter uns.“ Die Zahl der Beschäftigten im Konzern liegt mittlerweile länderübergreifend deutlich unter 100.000. In NRW hat Thyssenkrupp aktuell 33.900 Beschäftigte – knapp 1200 weniger als im Vorjahr. Das Unternehmen habe seine Widerstandsfähigkeit bewiesen, betont Burkhard, dessen Vertrag kurz vor der Bilanzpressekonferenz bis Ende September 2028 vom Aufsichtsrat verlängert worden ist. „Thyssenkrupp kann Krise“, betont er.

Wenn Konzernchefin Merz über die kommenden Monate spricht, sagt sie, der Vorstand bereite sich „auch auf das schlimmste Szenario vor“. Angesichts der großen Unsicherheiten sei eine Prognose nur sehr eingeschränkt möglich. „Unter dem Strich rechnen wir beim Jahresüberschuss mit einer schwarzen Null – mindestens“, sagt Finanzchef Keysberg. Ein Gewinnrückgang zeichnet sich ab. „Der Ausblick treibt einem Sorgenfalten auf die Stirn“, merkt Marc Tüngler an. „Da wirkt die Dividende wohltuend, wenn auch nur für einen ganz kurzen Moment.“