Essen. Die neue Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz legt eine schonungslose Bestandsaufnahme vor. Höherer Stellenabbau ist nicht ausgeschlossen.

Schon mit einer kleinen Ortsverlagerung will die neue Thyssenkrupp-Chefin ein Zeichen setzen. Zu Zeiten ihrer Vorgänger Heinrich Hiesinger und Guido Kerkhoff ist für die Bilanzpressekonferenzen regelmäßig das Atrium des Essener Konzernquartiers aufwändig umgebaut worden. Martina Merz hingegen nutzt für ihren ersten öffentlichen Auftritt den unternehmenseigenen Veranstaltungssaal – um Kosten zu sparen, wie der neue Thyssenkrupp-Kommunikationschef Christoph Zemelka eingangs betont.

Dass die erste Frau an der Spitze des Thyssenkrupp-Vorstands über Raumfragen hinaus erheblichen Veränderungsbedarf im Konzern sieht, wird ziemlich schnell an diesem Novembermorgen deutlich. „So wie bisher kann es nicht weitergehen“, sagt Merz und präsentiert eine schonungslose Bestandsaufnahme. Auf 19 Seiten Redetext erwähnt sie ihre Vorgänger zwar nicht namentlich – und doch ist die Kritik an den bisherigen Konzernlenkern unüberhörbar. „Der Konzern hat zu lange zugeschaut, wenn Geschäfte nicht die geplante Performance gebracht haben“, sagt sie. Anstatt die Probleme zu lösen, habe sich Thyssenkrupp „durchgewurschtelt“.

Merz sieht „außerordentlich angespannte Lage“

Nun befinde sich Thyssenkrupp in einer „außerordentlich angespannten Lage“, wie es Merz nennt. Das vergangene Geschäftsjahr hat der Stahl- und Industriegüterkonzern, der weltweit rund 160.000 Menschen Arbeit gibt, bereits mit tiefroten Zahlen abgeschlossen. Für die nächste Bilanz erwartet Merz sogar noch höhere Verluste. Zur Begründung verweist sie auf die bevorstehende Sanierung, denn Stellenabbau mit Abfindungen und Altersteilzeitmodellen kostet das Unternehmen zunächst einmal viel Geld. Einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag hat Thyssenkrupp-Finanzchef Johannes Dietsch bereits eingeplant. „Erfahrungsgemäß dauert es zwei bis drei Jahre, bis Restrukturierungen ihre volle Wirkung zeigen“, sagt Vorstandschefin Merz.

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Zum Amtsantritt bittet die Managerin, die Anfang Oktober vom Aufsichtsrat an die Spitze des Thyssenkrupp-Vorstands gewechselt ist, um etwas Geduld. „In sieben Wochen lassen sich die Fehlentwicklungen der Vergangenheit nicht aufholen“, sagt sie und kündigt einen „Weg mit vielen kleinen Schritten“ an. „In meinen Gesprächen mit Investoren, Führungskräften und Mitarbeitern habe ich gespürt, dass die Menschen auf Veränderungen warten.“ Was sie bislang gesehen und gehört habe, habe sie zum Teil ernüchtert. „Wir liegen in vielen Bereichen weit hinter unseren Ambitionen zurück.“

Burkhard: Thyssenkrupp „entbürokratisieren“ und „entschlacken“

Das lässt sich auch an den Zahlen im Geschäftsbericht ablesen: Unter dem Strich hat Thyssenkrupp in der Bilanz für 2018/2019 einen Fehlbetrag von 260 Millionen Euro verbucht. Im Jahr zuvor ist Unternehmensangaben zufolge bereits ein Verlust von zwölf Millionen Euro entstanden.

Vorstandschefin Martina Merz und Thyssenkrupp-Personalvorstand Oliver Burkhard.
Vorstandschefin Martina Merz und Thyssenkrupp-Personalvorstand Oliver Burkhard. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Thyssenkrupp-Personalvorstand Oliver Burkhard, der vor seinem Wechsel zum Essener Industriekonzern Bezirksleiter der IG Metall in NRW war, begründet die Fehlentwicklung im Unternehmen auch mit mangelhafter Führung. „Verantwortung übernehmen und zusammenarbeiten – das brauchen wir nicht nur an der Spitze, sondern auf allen Ebenen“, sagt er. Künftig solle Thyssenkrupp „weniger hierarchisch“ sein und mit weniger Führungsebenen auskommen. Es dürfe „kein Wegducken“ und „kein Durchwurschteln“ mehr geben. „Wir glauben an die Stärke unserer Geschäfte, aber nicht mehr an die Art und Weise, wie wir sie bislang geführt haben“, sagt Burkhard. Der Vorstand wolle Thyssenkrupp „entbürokratisieren“ und „entschlacken“.

Massiver Personalabbau in der Essener Thyssenkrupp-Zentrale

Das „größte Potenzial zur Verschlankung des Konzerns“ sehe der Vorstand in den Verwaltungen, führt Burkhard aus. Die Zahl der Beschäftigten in der Essener Firmenzentrale soll in den kommenden zwölf Monaten nahezu halbiert werden – von knapp 800 auf rund 430 Beschäftigte. „Einige der Mitarbeiter werden an anderer Stelle im Konzern eine Aufgabe übernehmen können, aber – wir sind ehrlich – nicht alle.“

Konzernweit sollen – Stand jetzt – rund 6000 der rund 160.000 Arbeitsplätze wegfallen. Davon gebe es bereits für rund 2100 Stellen eine Einigung mit der IG Metall. Ob es bei den 6000 Jobs bleiben wird? „Zum jetzigen Zeitpunkt können wir auch nicht ausschließen, dass es mehr Stellen werden, die wir abbauen müssen“, sagt Burkhard und betont, dass der Konzern betriebsbedingte Kündigungen vermeiden wolle, „aber auch nicht gänzlich ausschließen“ könne.

Werden mehr als 6000 Arbeitsplätze abgebaut?

Die Thyssenkrupp-Arbeitnehmervertreter warnen die neue Konzernchefin Merz indes vor einem ausufernden Stellenabbau. „Für uns gilt, was in der mit dem Vorstand vereinbarten Grundlagenvereinbarung steht – und das ist die Zahl von 6000 Arbeitsplätzen“, lässt sich Konzernbetriebsratschef Dirk Sievers von der Nachrichtenagentur Reuters zitieren. Der Vorstand könne nicht ständig neue Abbauzahlen aufrufen. „Dass wir als Arbeitnehmervertreter nicht abstreiten, dass restrukturiert werden muss, heißt noch lange nicht, dass hier freies Schießen ist.“

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Als die Bilanzpressekonferenz schon fast beendet ist, ergreift Martina Merz noch einmal das Wort. Sie freue sich sehr, sagt sie, dass sie Thyssenkrupp „leiten darf“. Die Herausforderungen seien groß, aber zu bewältigen. Die „Krisenstimmung“, die der Vorstand heute verbreite, solle nicht darüber hinwegtäuschen, dass Thyssenkrupp schon jetzt in vielen Bereichen „Spitzenleistung“ liefere.

An der Börse überzeugen diese Worte augenscheinlich nicht. Der Kurs bricht nach der Bilanzvorlage zwischenzeitlich um mehr als zehn Prozent ein.