Essen. Die Chemieindustrie warnt vor einer Kettenreaktion und einer Rezession bei einem Erdgas-Embargo. Fast alle Branchen seien dann betroffen.

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI), zu dem Konzerne wie Bayer, BASF, Covestro und Evonik gehören, warnt vor einer Kettenreaktion mit massiven Negativfolgen bei einem Importstopp von russischem Erdgas. „Über die Wertschöpfungsketten würde sich der Effekt auf die gesamte Industrie in Deutschland fortpflanzen“, sagte VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup in einer digitalen Pressekonferenz.

Nahezu alle Branchen wie etwa Landwirtschaft, Ernährung, Automobil, Kosmetik und Hygiene, Bauwesen, Verpackung, Pharma oder Elektronik wären nach Einschätzung des VCI im Falle eines Erdgas-Embargos von einer Unterbrechung ihrer Lieferketten betroffen. „Mit einer schweren und mehrjährigen Rezession mit einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen muss gerechnet werden“, so Große Entrup. „Anders als in der Finanz- und Coronakrise würde sich bei einer Industrie-Krise Deutschland nicht relativ schnell wieder erholen. Dann steht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Landes auf dem Spiel.“ Die Chemieindustrie sei an 90 Prozent der industriellen Lieferketten beteiligt.

Erdgas wichtiger Rohstoff für die Chemieindustrie

Die chemisch-pharmazeutische Industrie, zu der in Deutschland 466.500 Beschäftigte gehören, setzt eigenen Angaben zufolge jährlich rund 2,8 Millionen Tonnen Erdgas als Rohstoff ein (27 Prozent des Gesamtverbrauchs), außerdem 99,3 Terawattstunden Erdgas (73 Prozent) für die Erzeugung von Dampf und Strom.

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Die Hoffnung der Chemieindustrie auf einen positiven Wirtschaftsverlauf in diesem Jahr habe mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein jähes Ende gefunden. Die Erwartung der Branche von Anfang des Jahres für die Geschäftsaussichten 2022 sei innerhalb weniger Wochen gekippt. Laut VCI gehen nach einer aktuellen Umfrage des Verbandes 54 Prozent der Mitgliedsunternehmen von einem Rückgang bei Produktion und Umsatz für das laufende Jahr aus. Daher hat der VCI seine bisherige Einschätzung für das Gesamtjahr 2022 zurückgezogen. Eine Aktualisierung kann der Chemieverband derzeit nicht vornehmen: „Jegliche Prognose wäre im hohen Maß spekulativ“, sagte Große Entrup.

„Preise für Öl und Erdgas sind explodiert“

Die Lage habe sich durch den Ukraine-Krieg für die energie- und rohstoffintensive Chemie dramatisch verändert, betont der Branchenverband. „Die Preise für Öl und Erdgas sind explodiert. Der finanzielle Spielraum der Unternehmen schwindet immer mehr“, warnt der VCI. 70 Prozent der Unternehmen berichteten über gravierende Probleme für ihr Geschäft durch die hohen Energiepreise. 85 Prozent geben laut VCI an, dass sie steigende Produktions- und Beschaffungskosten entweder gar nicht oder nur zum Teil weitergeben könnten.

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Die wirtschaftliche Verflechtung der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie mit Russland und der Ukraine sei zwar „überschaubar, aber nicht unerheblich“, so der VCI. Russland und die Ukraine machten in Summe knapp drei Prozent der deutschen Chemie- und Pharmaexporte aus. Das waren zuletzt gut 6,8 Milliarden Euro. Die Branche ist zudem mit Tochterunternehmen vor Ort aktiv: Auf die Region entfallen rund zwei Prozent ihrer Direktinvestitionen im Ausland. Die rund 70 Betriebe beschäftigten nach Schätzung des VCI insgesamt etwa 20.000 Personen vor Kriegsbeginn. „Die russische Invasion ist ein brutaler Anschlag auf das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und in keiner Weise zu rechtfertigen“, sagt Große Entrup. „Daran ändern auch die staatliche Propaganda, Lügen und Fake News aus dem Kreml nicht das Geringste.“

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) vertritt die Interessen von rund 1900 Unternehmen aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie und chemienaher Wirtschaftszweige in Deutschland. Branchenpräsident ist derzeit Evonik-Vorstandschef Christian Kullmann.