Essen. Die Pandemie bringt die weltweiten Warenströme erstmals in diesem Jahrhundert ins Stocken. Für Konsumforscher ein guter Moment innezuhalten.

Den einen gilt er als Garant unseres Wohlstands, den anderen als Keimzelle jener Wegwerfgesellschaft, die den Planeten zerstört: Konsum. Seine Grenzen immer wieder zu sprengen, ist die Überlebensstrategie des Kapitalismus. Wohlstand durch Wachstum – was seit den 50er-Wirtschaftswunderjahren funktioniert hat, stellt diese Pandemie urplötzlich infrage. Nicht aufgrund einer kollektiven Besinnung, die Erde etwas sorgsamer ihrer Schätze zu entledigen. Sondern weil Covid-19 vermochte, was bisher nur Kriege konnten: die weltweiten Lieferketten zu brechen. Viele halten dies aber den richtigen Zeitpunkt, neu darüber nachzudenken, was wir wirklich brauchen und was nicht. Über den bereits beobachteten Trend zu einer bewussteren Ernährung hinweg.

Vom Segen der erzwungenen Entschleunigung philosophierten schon im ersten Corona-Advent kluge Köpfe. Beim zweiten wurde die Entschleunigung des globalen Warenverkehrs greifbar, fehlte manch Wunschgeschenk unterm Baum. Nicht jeder findet das so schlimm wie die auf ihre neue Playstation wartenden Kinder. Der Hildesheimer Konsumforscher Dirk Hohnsträter sieht in der Pandemie „eine Art Weltanschauungsverstärker“, wie er im Deutschlandfunk sagte. Wer schon vorher gesagt habe, das müsse weniger werden, meine, jetzt sei die Gelegenheit. Die anderen fühlten sich ebenfalls bestätigt und betonten: „Jetzt sieht man mal, was passiert, wenn wir das Ganze zum Halten bringen.“

Kolonialismus als Triebfeder des Konsums

Der Warenhandel rund um den Globus war stets die Voraussetzung für das, was Konsum ausmacht: Waren zu kaufen, die man nicht unbedingt braucht, aber unbedingt haben will. Im Übergang vom Notwendigen zum Luxus sehen Historiker den Beginn der Konsumgeschichte. Wann er zu datieren sei, darüber streiten sie. Ist es die Öffnung der chinesischen Ming-Dynastie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts für den Handel mit Europa, die Seide und Porzellan nach Westen und im Gegenzug Silber und Pfeffer ins Kaiserreich brachte? Oder war es doch die vor rund 350 Jahren in England begonnene industrielle Revolution, die durch den wachsenden Wohlstand der Arbeiterschaft Massenkonsum erst möglich machte? Oder brauchte es die ersten Konsumtempel der 1850er-Jahre in Amerika, um Lustkäufe zu etablieren?

So oder so waren zu allen Zeiten Handelsrouten die Voraussetzung dafür, dass Menschen neuartige Kleider anziehen, unbekannte Gemüsesorten vom anderen Ende der Welt genießen oder ihren Tee süßen konnten. Der Kolonialismus der Vereinigten Niederlande und des britischen Empires gilt deshalb als entscheidender Schritt auf dem Weg zur Konsumgesellschaft, wie wir sie kennen. Ihr eigen ist ein reger Welthandel, der darauf basiert, dass begehrte Waren nicht mehr den Oberschichten vorbehalten sind, sondern ein großer Teil der Gesellschaft sie sich leisten kann.

Der Luxusbegriff verändert sich immer wieder

Natürlich ist es ein weiter Weg vom rauchenden, Kaffee trinkenden Arbeiter im 19. Jahrhundert zum Durchschnittsdeutschen von heute, der rund 10.000 Dinge besitzt, sich mit einem Mausklick jederzeit neue bestellen und im Supermarkt Trüffel und Champagner kaufen kann, ohne dafür ein Tagesgehalt opfern zu müssen. Wert und Ausmaß von Luxus lassen sich nur in der jeweiligen Zeit messen, betont stets der Historiker Frank Trentmann, dessen Konsumgeschichtswerk „Die Herrschaft der Dinge“ zum Bestseller wurde. Dass auf dem bürgerlichen Esstisch im 19. Jahrhundert Zucker stand und auf der Anrichte Tabak, mag ähnliche Hochgefühle ausgelöst haben wie die Anschaffung der ersten Waschmaschine im Wirtschaftswunder-Deutschland der 1950er-Jahre.

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Doch der Sprung zur Amazon-Konsumgesellschaft ist von einer neuen Qualität, weil er die permanente weltweite Verfügbarkeit von Waren voraussetzt, oft bestehend aus Teilen, die ihrerseits aus allen Ecken des Globus punktgenau für die Endproduktion geliefert werden. Dass ein in Vietnam gefertigtes Hundespielzeug und die neusten Nike-Turnschuhe binnen Sekunden im virtuellen Warenkorb liegen und am nächsten Tag an die Haustür geliefert werden, scheint der Endstufe globalisierten Konsums recht nah, weitere derartige Quantensprünge sind schwer vorstellbar. Selbst, wenn dereinst der heimische 3D-Drucker alles binnen Sekunden gegen Patentgebühr ausdruckt, bleibt der Zeitgewinn überschaubar – bei höchstens einem Tag.

„Just-in-time“ erweist sich als fragiles Produktionsmodell

Dass sich die Konsum-Globalisierung allerdings nur in der Theorie ihrer Perfektion nähert, zeigt diese Pandemie: Bricht ein Glied der Lieferkette, wird aus Perfektion schnell Chaos. Sei es, weil ein Containerschiff im Suez-Kanal auf Grund läuft. Oder weil China seine Häfen aus Angst vor Covid-19 schließt. Ist das „Just-in-Time“-Prinzip, nach dem jedes noch so kleine Einzelteil etwa für ein Elektrogerät zu einer bestimmten Stunde mit allen anderen eintreffen muss, um die Lagerkosten zu minimieren, einmal unterbrochen, lässt es sich nur schwer wieder in Kraft setzen. Und stockt der Schiffsverkehr aus Asien, kommt auch der neue Turnschuh nicht über den Ozean. Für die Verbraucher in Deutschland ist es eine ganz neue Erfahrung, nicht alles jederzeit kaufen zu können. Der Konsum ist, wie von so vielen Globalisierungskritikern lange ersehnt, zum ersten Mal in diesem Jahrhundert an seine Grenzen geraten.

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Zufall oder nicht – die Störung der weltweiten Handelsströme fällt in eine Zeit, da die Kritik an der Überflussgesellschaft wieder zunimmt. Da der Klimawandel immer spürbarer wird und die Mehrheit der Gesellschaft besorgt, wird der Warenverkehr rund um den Globus von vielen nicht mehr als Errungenschaft ihrer Zeit gewürdigt, sondern als Teil der Gefahr gesehen, die vom Menschen für das ihm zuträgliche Klima ausgeht. Bis Schiffe, Lkw und Flugzeuge klimaneutral fahren und fliegen können, wird diese Skepsis weiter zunehmen.

Die Wegwerfmentalität dreht Richtung Nachhaltigkeit

Doch es ist weniger der seit den 80ern bekannte Ruf nach Verzicht, es geht den meisten um mehr nachhaltigere Produktion, klimaschonenden Transport, mehr Langlebigkeit und Wiederverwertung der Güter. Das ist keine grundsätzliche Ablehnung des sich selbst beschleunigenden Kreislaufs von Nachfrage, Produktion, Kauf, Verbrauch und neuer Nachfrage mehr, der in der Geiz-ist-Geil-Mentalität kurz nach der Jahrtausendwende gipfelte. Denn Wachstum lässt sich bei steigender Werthaltigkeit auch mit sinkenden Stückzahlen erreichen.

„Nicht weniger, sondern besser“ sollte der Mensch konsumieren und die Politik dies fördern, wüscht sich Historiker Trentmann. Er sieht im Konsum die Triebfeder des Fortschritts und warnt regelmäßig davor, ihn zu verteufeln. Gleichzeitig warnt er vor dem Dilemma, dass er ein „schweres kulturelles Erbe für unsere heutige Klimakrise“ sei, wie er der Katholischen Nachrichtenagentur einmal sagte. Er rät daher zu politischen Anreizen für einen nachhaltigeren Konsum, etwa durch höhere Steuern für umweltschädliche Produkte. Der Konsumforscher sieht aktuell positive Ansätze zu bewussterem Verbrauch, der Staat müsse nun dafür sorgen, dass die Menschen nach der Pandemie nicht in ihre alten Muster des möglichst viel möglichst schnell Konsumierens zurückfallen.

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Es ist unwahrscheinlich dass sich die Ende des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Roscher vertretene Sichtweise noch einmal durchsetzt: Ein Mantel sei erst „consumirt“, wenn der Stoff sich auflöse, befand der Begründer der Historischen Schule der Ökonomie. Doch die über die Wohlstandsjahrzehnte angewöhnte Wegwerfmentalität dreht auch nach Beobachtung der großen Handelskonzerne eindeutig in Richtung Nachhaltigkeit. Sie alle haben eigens dafür neue Führungsposten geschaffen. Die sagen dann Sätze wie diesen von der Metro-Managerin Lena vom Stein: „Wir müssen nachhaltig wirtschaften, sonst gibt es am Ende nichts mehr zu wirtschaften.“

Konsumforscher fordert mehr politische Intervention

Ob nur zur Imagepflege oder aus dem ernsthaften Motiv, in Zukunft nachhaltigere Produkten besser verkaufen zu können, sei einmal dahingestellt: Mode, die nach drei Wäschen untragbar ist, wird sich eher nicht mehr durchsetzen. Und der Erfolg von Elektronikherstellern wird mehr daran gemessen werden, wie lange ihre Geräte laufen – und ob ihre Teile danach wiederverwertet werden. Womöglich wird das irgendwann auch den Entwicklungszyklus einer neuen Playstation verlängern.

Natürlich wirbt Hersteller Sony schon heute damit, ganz viel fürs Klima zu tun. 2019 trat Sony der UN-Kampagne „Playing for the Planet“ bei und gelobte höchste CO2-Sparsamkeit. Während der Klimakonferenz in Glasgow 2021 rettete der Spielegigant aber lieber sein Weihnachtsgeschäft als das Klima – und charterte Dutzende Jumbo-Jets, um Großbritannien trotz des stockenden Schiffsverkehrs mit Spielekonsolen zu versorgen. Trentmann würde an dieser Stelle sagen, die Verbraucher hätten eben nur eine begrenzte Macht. Sich mehr Nachhaltigkeit zu wünschen, reicht nicht. Dafür braucht es noch die Industrie – und eine Politik, die ihr klare Regeln und auch Grenzen setzt.