Essen/Duisburg. Sigmar Gabriel übernimmt eine Schlüsselposition bei Thyssenkrupp. Seit jeher hat Gabriel enge Kontakte zum Konzern gepflegt.

Sigmar Gabriel hat sich schon oft zur Lage der Stahlindustrie im Allgemeinen und Thyssenkrupp im Besonderen geäußert. Im Sommer 2017 zum Beispiel: Der damalige Bundesaußenminister stattet Betriebsräten einen Besuch ab im traditionsreichen Yachtclub an Duisburgs Sechs-Seen-Platte. Eine Riege von Arbeitnehmervertretern ist da, angeführt vom legendären Konzernbetriebsratschef Wilhelm Segerath. Dazu gesellt sich der Minister. „Wo ist der Willi?“, fragt Gabriel, bevor es losgeht. „Willi, du bist so weit weg von mir.“ Segerath soll neben Gabriel sitzen, Schulter an Schulter.

Knapp fünf Jahre später ist Sigmar Gabriel wieder bei Thyssenkrupp Steel – allerdings in neuer Funktion. Überraschend wird der frühere Minister, Vizekanzler und SPD-Chef neuer Aufsichtsratschef von Deutschlands größtem Stahlhersteller. Der Revierkonzern steht schon seit Jahren unter Druck – umso mehr seit Beginn des Krieges von Russland gegen die Ukraine.

Am frühen Donnerstagnachmittag verschickt die Pressestelle des Unternehmens eine Mitteilung, mit der sich auch das Machtgefüge bei Thyssenkrupp spürbar verschiebt. Die Gremien haben da bereits getagt und entschieden: Von der Hauptversammlung der Steel-Aktiengesellschaft sei Gabriel in den Aufsichtsrat berufen worden – und unmittelbar danach bei einer konstituierenden Sitzung zum neuen Vorsitzenden gewählt worden.

Aufbau einer klimafreundlichen Produktion steht an

Von Vorstandschefin Martina Merz, die bei manchen Arbeitnehmervertretern aufgrund der prekären Lage des Konzerns nicht unumstritten ist, wird Gabriel mit warmen Worten begrüßt. Er bringe aus seiner Zeit als Bundesumwelt- und Bundeswirtschaftsminister wertvolle Erfahrungen mit, die für die „grüne Transformation“ von Thyssenkrupp Steel „von essenzieller Bedeutung sein werden“, schwärmt die Managerin.

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Auch Gabriel zeigt sich in einem schriftlich verschickten Statement voller Tatendrang und spricht von einer „der spannendsten Aufgaben, die derzeit in der deutschen Industrie zu vergeben sind“. Er sei optimistisch, dass die Herausforderungen beim anstehenden Aufbau einer klimafreundlichen Produktion bewältigt werden können.

Doch das Umfeld für die erforderlichen milliardenschweren Investitionen in neue Anlagen, die künftig statt der klimaschädlichen Hochöfen grünen Stahl erzeugen sollen, ist denkbar ungünstig. Thyssenkrupp Steel ist stark von der Automobilindustrie abhängig – und deren Produktion geht aufgrund der aktuellen Krise zurück.

Vermittlerrolle zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite gefragt

Vorstandschefin Merz hat die Thyssenkrupp-Belegschaft vor wenigen Tagen wegen des Ukraine-Kriegs bereits auf harte Zeiten vorbereitet. Ausgaben würden nun „auf den Prüfstand“ gestellt. Tausende Beschäftigte werden voraussichtlich in Kurzarbeit gehen. Pläne für eine Verselbstständigung der Stahlsparte mit rund 26.000 Beschäftigten hat die Managerin ebenfalls erst einmal auf Eis gelegt.

Gabriel kennt die Vermittlerrolle zwischen den Interessen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite. Als früherer niedersächsischer Ministerpräsident hat er in der Vergangenheit auch beim Thyssenkrupp-Konkurrenten Salzgitter mitgemischt. An dem Stahlkonzern ist das Land Niedersachsen beteiligt. Mit der Tochterfirma HKM betreiben Thyssenkrupp und Salzgitter in Duisburg auch ein Gemeinschaftsunternehmen, bei dem ebenfalls ein Umbau und möglicherweise auch Einschnitte bevorstehen.

Offen ist generell, wie die Zukunft von Thyssenkrupp Steel aussieht. Kann eine Abspaltung der Stahlsparte vom Essener Mutterkonzern funktionieren? Reicht das Geld für Investitionen und milliardenschwere Pensionslasten? Thomas Kutschaty, der SPD-Herausforderer von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), zeigt sich offen für eine Beteiligung des Landes an Deutschland größtem Stahlkonzern. Es handle sich schließlich um ein Zukunftsgeschäft – trotz der aktuell angespannten Situation.

Kommt es zu einer Abspaltung von Thyssenkrupp Steel?

„Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass die Strategie der eigenständigen Aufstellung des Stahlgeschäfts gute Zukunftsperspektiven eröffnet – auch wenn die konkrete Form der Umsetzung aufgrund der geopolitischen Lage für den Moment offenbleiben muss“, erklärt Merz in der aktuellen Mitteilung zur Gabriel-Personalie. Das lässt Raum für Spekulationen.

Zuletzt war regelmäßig ein Vorstandsmitglied des Essener Mutterkonzerns Aufsichtsratschef der Thyssenkrupp-Stahlsparte mit ihrem großen Standort Duisburg – zuletzt übernahm Finanzchef Klaus Keysberg diese Aufgabe. Das ändert sich nun. Bewusst gebe es mit Gabriel jetzt ein „unabhängiges Mitglied“ im Aufsichtsrat, das Vertrauen beider Seiten des montanmitbestimmten Stahlunternehmens besitze, erklärt das Unternehmen. Einflussreiche Vertreter der Gewerkschaft IG Metall äußern sich dieser Tage unzufrieden mit Blick auf die Entwicklung des Unternehmens.

Bei seinem Besuch in Duisburg vor fünf Jahren hat Gabriel gerne daran erinnert, dass er „mal beteiligt war“, als es darum gegangen sei, einen deutschen Stahlkonzern zu „verstaatlichen“. 1998 übernahm das Land Niedersachsen gemeinsam mit der NordLB den Stahlkocher Salzgitter komplett vom Preussag-Konzern und brachte kurz darauf eine Mehrheit der Anteile an die Börse. Zu dieser Zeit mischte Gabriel in der Landespolitik mit und wurde später Ministerpräsident.