Essen. Kommt der Atom- und Kohleausstieg wegen des Ukraine-Kriegs später? RWE bringt den Betrieb bereits stillgelegter Kohlekraftwerke ins Spiel.

Deutschland drückt in der Debatte um die beste Energiepolitik den Resetknopf: Keine Tabus, alles muss neu auf den Tisch – so oder so ähnlich äußern sich dieser Tage Spitzenpolitiker aus Bund und Ländern. Dazu gehört auch die heikle Frage, ob der für dieses Jahr geplante Atomausstieg verschoben werden könnte und auch der Kohleausstieg erst nach 2030 erfolgen sollte. Gemeinsam bangen die Energiepolitiker aller Parteien und die Experten um die Gasversorgung aus Russland. Erdgas aus dem Lande Putins deckt derzeit mehr als die Hälfte des deutschen Gasbedarfs, ist elementar vor allem für die Heizungen in Privathaushalten und als Brennstoff für Industrien, darunter auch Kraftwerke.

NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) hat dazu seinen Amtskolleginnen und Kollegen der anderen Bundesländer am Montag einige Thesen vorgestellt, die in einer Sonder-Wirtschaftsministerkonferenz diskutiert wurden. Pinkwart stellt sich nicht an die Spitze derer, die den Atomausstieg verschieben wollen, meint aber, es dürfe auch nicht „ohne tiefergehende Prüfung ausgeschlossen werden“. Eine befristete Verlängerung der Laufzeiten solle „zeitnah von der Bundesregierung geprüft und mit den Betreibern diskutiert werden“, so Pinkwart. Er betont, dies könne helfen, die Versorgungssicherheit zu wahren, ohne deutlich mehr Klimagase auszustoßen. Das geschieht nämlich aktuell, weil die Kohlekraftwerke mehr Strom liefern.

Ob das Abschalten der Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke im geplanten Tempo weitergehen könne, müsse die Bundesnetzagentur „unmittelbar prüfen“ und notfalls bereits genehmigte Abschaltungen aussetzen. Oberste Priorität müsse nun die Versorgungssicherheit haben und nicht das von der Ampel favorisierte Ausstiegsdatum 2030. Ansonsten setzt NRW-Wirtschaftsminister Pinkwart wie die Bundesregierung auf alternative Gaslieferwege, mehr Flüssiggas und einen schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien. Offen zeigte er sich auch dafür, den selbst beschlossenen 1000-Meter-Mindestabstand neuer Windräder zu Wohngebieten zu verkleinern, dann aber bundesweit einheitlich.

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Manuel Frondel, Energieexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts RWI, sagt, „eine Laufzeitverlängerung für die AKW in Deutschland wäre aus ökonomischen und klimapolitischen Gründen sinnvoll“. Ob eine Laufzeitverlängerung aber „ohne echtes Interesse der Betreiber“ ermöglicht werden könne, sei „eine ganz andere Frage“. Frondel hält es auch für möglich, dass sich der Kohleausstieg in Deutschland aufgrund des Ukraine-Kriegs verzögern könnte. „Denn Gaskraftwerke spielen eine zentrale Rolle beim Kohleausstieg, egal ob dieser bis 2030 oder erst bis 2038 vollzogen wird“, sagt der Wissenschaftler.

„Völlig geänderte Situation durch den Krieg in der Ukraine“

Rufe nach einer AKW-Laufzeitverlängerung werden auch aus der Wirtschaft laut. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) erklärte, die Kernkraftwerke könnten mit ihrem Anteil von zehn Prozent an der Stromversorgung „einen Betrag zur Versorgungssicherheit leisten“, sofern eine Gaskrise über das Jahr 2022 hinweg andauern würde. Auch ein vorübergehendes Aussetzen des Ausstiegs aus der Kohleverstromung sei eine Option und „eine nachvollziehbare Reaktion der Politik auf eine völlig geänderte Situation durch den Krieg in der Ukraine“, urteilt der VCI, an dessen Spitze derzeit Evonik-Chef Christian Kullmann als Präsident steht.

SPD-Landeschef Thomas Kutschaty fordert einen Energiegipfel, „bei dem alle relevanten Akteure an einen Tisch kommen“. Es gebe keine Alternative zu einem „massiven Ausbau der erneuerbaren Energien“. Eine Überprüfung des Kohleausstiegs führe deshalb in die falsche Richtung und würde „im schlechtesten Fall nur einen gesellschaftlichen Konflikt neu entfachen, den wir bereits in einem breiten gesellschaftlichen Konsens befriedet haben“. In dieser Zeit sei kaum etwas auszuschließen, „aber ein Ausstieg aus dem Ausstieg wäre ein großer Schritt zurück“, so Kutschaty gegenüber unserer Redaktion.

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Grünen-Landeschefin Mona Neubaur betont, aus der Abhängigkeit von russischem Gas führe „mittel- und langfristig nur Wind und Sonne“. Der Kohleausstieg bis 2030 sei „ambitioniert, aber er ist nach wie vor machbar“, sagte Neubaur unserer Redaktion. Die Diskussion über den Weiterbetrieb der drei noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke ignoriere dagegen „alle relevanten Argumente – wissenschaftliche, technische, wirtschaftliche und rechtliche“. Das Abschalten der AKW sei per Gesetz beschlossen, das rückgängig zu machen, nehme Zeit in Anspruch, die es nicht gebe. Zudem fehle es den Betreibern zufolge an Personal und Brennstäben.

Laufzeitverlängerung für AKW schwierig: Brennstoff fehlt laut Betreibern

Tatsächlich reagierten die Essener Energiekonzerne Eon und RWE zunächst zurückhaltend auf Rufe nach einer Laufzeitverlängerung für Deutschlands Atomkraftwerke angesichts des Kriegs in der Ukraine. Derzeit ist gesetzlich geregelt, dass die drei verbliebenen AKW Ende dieses Jahres vom Netz gehen.

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Seit Jahren arbeitet die Eon-Tochterfirma Preussen-Elektra bei ihrem bayerischen Kernkraftwerk Isar 2 auf Ende 2022 als Ausstiegsdatum hin. Daher verfügt das Unternehmen eigener Darstellung zufolge auch nicht mehr über den Brennstoff, der für einen Weiterbetrieb notwendig wäre. Auch das erforderliche Personal stünde nicht mehr für bereit. Dies betrifft nicht nur Eon, sondern auch Zulieferer beziehungsweise Dienstleister. Davon abgesehen müsste für einen Weiterbetrieb zunächst das Atomgesetz geändert werden. Hier sind die Laufzeiten für die Kernkraftwerke festgelegt.

Eon bereit zu Gesprächen, „sofern dies seitens der Bundesregierung ausdrücklich gewünscht ist“

Der Essener Nachbarkonzern RWE betont ebenfalls, es gebe eine klare gesetzliche Regelung zur Abschaltung der Kernkraftwerke. Das RWE-Kraftwerk in Emsland sei auf einen Betrieb bis Ende des Jahres ausgerichtet, zu diesem Zeitpunkt werde der Brennstoff aufgebraucht sein. „Ein Weiterbetrieb wäre – anders als etwa bei Kohlekraftwerken – ohne weiteres nicht machbar, dafür gibt es extrem hohe Hürden, sowohl technisch als auch genehmigungsrechtlich“, so RWE. „Dass die Bundesregierung in dieser ernsten Situation alle Versorgungsoptionen prüft, können wir nachvollziehen.“

Am Montagabend (28. Februar) zeigte sich Eon offen, mit der Bundesregierung Gespräche über eine Laufzeitverlängerung für das konzerneigene Kernkraftwerk zu führen. „Wir bereiten uns seit Jahren sowohl technisch als auch organisatorisch auf die Stilllegung und den Rückbau unserer Kernkraftwerke vor. Vor dem Hintergrund der kriegerischen Handlungen in Europa und der daraus resultierenden Risiken für die Versorgungssicherheit ist es nachvollziehbar, dass die aktuellen energiepolitischen Gegebenheiten auf den Prüfstand gestellt werden“, erklärte Eon. In dieser Ausnahmesituation sei Eon bereit, darüber zu sprechen, unter welchen technischen, organisatorischen und regulatorischen Bedingungen eine verlängerte Nutzung des Kernkraftwerks Isar 2 „möglich wäre, sofern dies seitens der Bundesregierung ausdrücklich gewünscht ist“.

RWE sieht bei Kohlekraftwerken Verschiebung von Stilllegungen als Option

Mit Blick auf die Kohleverstromung sollte es nach Einschätzung von RWE jetzt darum gehen, die Versorgungssicherheit in Deutschland auch für ein Krisenszenario zu sichern, in dem Rohstofflieferungen aus Russland ausbleiben. Das betreffe vor allem den kommenden Winter und die nächsten Jahre. „Eine Möglichkeit kann dabei sein, Kohlekraftwerke, die sich in der Reserve oder Sicherheitsbereitschaft befinden wieder zu nutzen“, regt der Energiekonzern an. Zudem könne geprüft werden, bereits stillgelegte Anlagen zurück ans Netz zu bringen. Die Verschiebung von Stilllegungen, die in diesem Jahr anstehen, wäre laut RWE eine weitere Möglichkeit. „Für unsere Anlagen prüfen wir das, damit wir handlungsfähig sind, wenn die Bundesregierung derartige Maßnahmen für notwendig erachtet“, erklärte RWE auf Anfrage unserer Redaktion.

„Aus unserer Sicht ist jetzt vor allem der kurz- und mittelfristige Zeitraum relevant und nicht die generelle Frage, wann das richtige Enddatum für das Auslaufen der Kohle ist“, so RWE. Daneben müsse es „einen Booster für den Ausbau der erneuerbaren Energien“ geben.

Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) mahnt einen beschleunigten Umbau der deutschen Energieversorgung an. „Wir müssen so schnell wie meine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien und der Elektrifizierung aller Sektoren hinbekommen“, sagte Kemfert unserer Redaktion. „Wir müssen so schnell wie möglich wegkommen von Öl, Gas, Kohle und Uran, die wir zum größten Teil aus Russland beziehen.“ Eine längere Nutzung von Atom- und Kohlekraftwerken mache Deutschland erpressbar, betonte Kemfert. „Die Energiewende stiftet Frieden, Versorgungssicherheit und Freiheit.“