Essen. Die Stahlindustrie macht Druck – und hofft auf Hilfen einer künftigen Bundesregierung. Branchenverband und IG Metall setzen ein Zeichen.
Es ist das erste gemeinsame Interview von Stahl-Präsident Hans Jürgen Kerkhoff und IG Metall-Bundesvorstand Jürgen Kerner. Kurz nach der Bundestagswahl wollen beide ein Zeichen setzen. Im Gespräch mit unserer Redaktion betonen Kerkhoff und Kerner, es stehe viel auf dem Spiel für Europas größten Stahlstandort Duisburg und die bundesweit rund 85.000 Beschäftigte in der Branche. Die IG Metall und der Branchenverband Wirtschaftsvereinigung Stahl dringen auf rasche Entscheidungen einer künftigen Bundesregierung zum klimafreundlichen Umbau der Industrie. „In einem 100-Tage-Programm der neuen Bundesregierung brauchen wir Planungssicherheit für Investitionen, um eine klimafreundliche Stahlindustrie aufzubauen. Die Zeit drängt“, sagt Kerner. „Spätestens in den ersten drei Monaten des neuen Jahres sollte klar sein, worauf sich die Unternehmen und ihre Beschäftigten einstellen können.“ Hier lesen Sie das Interview im Wortlaut:
Herr Kerkhoff, Herr Kerner, dass Sie zum Doppel-Interview antreten, ist ungewöhnlich. Ist damit die Botschaft verbunden, dass die Branche in einer ernsten Lage zusammenrückt?
Kerkhoff: Die Herausforderungen sind immens, daher brauchen wir einen Schulterschluss. Der Stahl ist ein Lackmustest dafür, ob der Umbau der Industrie in Richtung Klimaneutralität insgesamt in Deutschland funktioniert.
Kerner: Es geht um die Zukunft einer Schlüsselbranche unseres Landes. Gegeneinander hilft uns hier nicht weiter.
Das Ergebnis der Bundestagswahl steht fest, aber noch nicht, wie die neue Bundesregierung aussehen wird. Es könnte auf ein Ampelbündnis von SPD, Grünen und FDP hinauslaufen. Ist diese Konstellation gut für die Stahlindustrie?
Kerner: Entscheidend für uns ist, was im Koalitionsvertrag steht. Aus der Perspektive der Stahlindustrie heißt das: In einem 100-Tage-Programm der neuen Bundesregierung brauchen wir Planungssicherheit für
Investitionen, um eine klimafreundliche Stahlindustrie aufzubauen. Die Zeit drängt. Spätestens in den ersten drei Monaten des neuen Jahres sollte klar sein, worauf sich die Unternehmen und ihre Beschäftigten einstellen können.
Welche Erwartungen haben Sie mit Blick auf die künftige Bundesregierung, Herr Kerkhoff?
Kerkhoff: Wir brauchen Tempo. Wir haben schon viel Zeit verloren, das können wir uns nicht weiter leisten. Jede neue Koalition ist gut, die uns schnell Handlungsfähigkeit bringt.
Pläne für eine möglichst klimaneutrale Stahlproduktion gibt es auch anderswo auf der Welt, in Schweden etwa. Dort beteiligt sich der Autobauer Mercedes an einem Start-up mit ehrgeizigen Plänen. Droht Deutschland den Anschluss zu verlieren?
Kerner: Die Gefahr, dass uns andere Länder abhängen, ist real. Wir müssen aufpassen, dass wir im globalen Wettbewerb nicht ins Hintertreffen geraten. Wohlgemerkt: In Schweden geht es um den Bau eines neuen Stahlwerks, in Deutschland reden wir lediglich über den Umbau bestehender Standorte.
Klimaneutraler Stahl ist deutlich teurer als Stahl aus konventioneller Herstellung. Wie lässt sich dieses Problem lösen?
Kerkhoff: Der Aufbau neuer Anlagen für eine klimaneutrale Stahlproduktion erfordert hohe Investitionen, außerdem entstehen höhere Betriebskosten. Sowohl für die Investitionen als auch für die laufenden Kosten brauchen die Unternehmen eine Anschubfinanzierung. Sinnvoll wären Klimaschutzverträge, mit denen die Mehrkosten des Umstiegs auf klimaneutrale Prozesse eine gewisse Zeit lang ausgeglichen werden.
Kerner: Wichtig wäre, dass im Koalitionsvertrag nicht die Meinung vorherrscht: Der Markt wird es schon richten. Der grüne Stahl ist die Zukunft, aber aktuell brauchen wir eine aktive Industriepolitik und finanzielle Unterstützung.
Wie viel Geld benötigt die Stahlindustrie, Herr Kerner?
Kerner: Wir brauchen einen Transformationsfonds, der bis zum Jahr 2030 mit zehn Milliarden Euro ausgestattet ist. Das ist viel Geld, die Investition rechnet sich aber, da das Potenzial für mehr Klimaschutz in der Stahlindustrie besonders groß ist. Wir können hier durch Investitionen an einigen wenigen Standorten sehr effektiv Verbesserungen herbeiführen. Die Hebelwirkung ist gigantisch. Wenn es uns beim Stahl nicht gelingt, erfolgreich die Industrie umzubauen, wird es uns erst recht nicht in anderen Bereichen gelingen. Das ist auch ein Testfall für die deutsche Industriepolitik.
Es sind eine Reihe von Ministerien, die sich mit Themen der Stahlindustrie befassen. Wünschen Sie sich für die künftige Bundesregierung einen anderen Zuschnitt der Ressorts?
Kerkhoff: Der Umbau der Stahlindustrie ist für die Industrienation Deutschland von entscheidender Bedeutung. Damit verbundene Koordinationsaufgaben sollten im Kanzleramt angesiedelt sein, ähnlich wie bei der Digitalisierungsbeauftragten der derzeitigen Bundesregierung.
Duisburg ist Europas größter Stahlstandort mit Unternehmen wie Thyssenkrupp, Salzgitter und Arcelor-Mittal. Rund 85.000 Beschäftigte arbeiten aktuell in der Branche. Sind diese Arbeitsplätze in Gefahr, wenn es keine Impulse durch die neue Bundesregierung gibt?
Kerner: Absolut. Entweder es gelingt uns der Aufbau einer klimaneutralen Stahlproduktion oder die Industrie verschwindet und der Werkstoff wird künftig anderswo produziert. Das hätte für Europas größten Stahlstandort Duisburg fatale Folgen. Daher dürfen wir es nicht soweit kommen lassen. Der Umbau, wie wir ihn anstreben, ist schon anspruchsvoll genug. Wenn wir die klassische Produktion in Hochöfen und Kokereien durch eine Stahlherstellung auf Basis von Wasserstoff ersetzen, betrifft das allein in Duisburg 4000 Beschäftigte. Diese Menschen müssen eine Perspektive bekommen und frühzeitig für ihre neuen Aufgaben qualifiziert werden.
Kerkhoff: Es geht hier nicht nur um die Stahlindustrie, sondern auch um die Betriebe, die den Werkstoff
weiterverarbeiten. Wenn der Stahl keine Zukunft hat in Deutschland, verschwinden ganze Wertschöpfungsketten.
Eine entscheidende Rolle in den Planungen der Stahlhersteller spielt der Wasserstoff. Doch grüner Wasserstoff ist teuer und bislang kaum verfügbar. Ist ein schneller Hochlauf der grünen Stahlproduktion illusorisch?
Kerner: Richtig ist: Es gibt viel zu tun, daher machen wir auch so viel Druck. Ein entscheidender Punkt ist: Der Stahl kann dazu beitragen, die Wasserstoff-Wirtschaft richtig in Gang zu bringen. Wir müssen hier endlich raus aus der Bastelstube und beim Wasserstoff industrielle Großprojekte realisieren. Das kann auch der deutschen Exportwirtschaft erhebliche Impulse verleihen.
Druck kommt auch von der europäischen Ebene. Die EU-Kommission hat im Juli ein Klimapaket mit dem Namen „Fit for 55“ präsentiert, das zum Ziel hat, bis zum Jahr 2030 die Kohlendioxid-Emissionen um 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Ist das für die Stahlindustrie zu schaffen?
Kerner: Wir sollten nicht nur über neue Klimaziele reden, sondern auch über Instrumente, mit denen sich die Ziele in der Realität umsetzen lassen. Hier vermisse ich derzeit eine industriepolitische Perspektive der EU-Kommission.
Kerkhoff: Ich hoffe, dass nicht nur die künftige Bundesregierung, sondern auch die Bundesländer, deren Perspektiven auch von Brüssel abhängen, gegenüber der EU-Kommission deutlich machen, was auf dem Spiel steht.
Für den 29. Oktober planen Arbeitnehmervertreter einen „Stahl-Aktionstag“ in Duisburg mit einer Großkundgebung, an der mindestens 5000 Beschäftigte teilnehmen sollen. Werden Sie da auch mit auf die Straße gehen, Herr Kerkhoff?
Kerkhoff: Ich wurde ja auch in der Vergangenheit schon zu Kundgebungen eingeladen und habe zugesagt. Wenn es um eine gute Sache geht, gehe ich dafür gerne auf die Straße.