Essen. Evonik-Chef Christian Kullmann zieht Bilanz, blickt nach vorn und macht eine ungewöhnliche Ansage: 2021 werde für Evonik „das Jahr des Kaktus“.
Um zu verbildlichen, wie es um Evonik steht, trug Vorstandschef Christian Kullmann eine kurze Geschichte vor, die von einem Kaktus handelte. Als er sich kürzlich zum Feierabend verabschiedete, habe der Pförtner seinen Blick auf eine weiße Vase mit einem Kaktus gelenkt, erzählte Kullmann bei der Bilanzpressekonferenz. Seit Jahren, fast schon seit Ewigkeiten laufe er auf einem Flur der Konzernzentrale an diesem Kaktus vorbei, der sich einfach nicht verändert habe. Doch jetzt, so Kullmann, wachse und blühe der Kaktus. Gleiches gelte auch für sein Unternehmen, weshalb der Manager zu dem Schluss kam, für Evonik sei „2021 das Jahr des Kaktus“. 2020 habe der Konzern „mit den Stacheln des Kaktus die Pandemie abgewehrt – und jetzt schalten wir um auf Wachstum“.
Zum ersten Mal präsentierte Kullmann in einem rein digitalen Format die Jahresbilanz des Essener Chemiekonzerns. Anfang März vergangenen Jahres, als die Pandemie vielen Menschen schon Angst einjagte, hatte der Evonik-Vorstand noch zu einer Pressekonferenz am Firmensitz eingeladen. Freimütig erzählte Kullmann seinerzeit, wie ihn seine Frau aus dem Supermarkt angerufen habe, um ihm zu sagen: „Schatz, die Regale sind leer.“ Bei der Bilanzvorlage äußerte Kullmann dann die Erwartung, dass 2020 „kein einfaches Jahr“ werden würde.
„Schlimmsten Weltwirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg“
Rückblickend wirkt diese Einschätzung leicht untertrieben. Heute spricht der Konzernchef denn auch von der „schlimmsten Weltwirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg“ und einer Pandemie, die „unseren Alltag auf ganz schreckliche Art und Weise geprägt hat“. Beim 33.000-Mitarbeiter-Konzern Evonik habe es 1300 infizierte Beschäftigte gegeben, berichtet Personalvorstand Thomas Wessel. 1200 von ihnen seien mittlerweile wieder genesen.
Auch an den Zahlen der Evonik-Bilanz lässt sich ablesen, wie hart die Corona-Krise den erfolgsverwöhnten Revierkonzern getroffen hat. Der Umsatz ging um sieben Prozent auf knapp 12,2 Milliarden Euro zurück. Das Konzernergebnis schrumpfte sogar um 78 Prozent und fiel mit 465 Millionen Euro deutlich niedriger aus als im Vorjahr.
Dividende für RAG-Stiftung und Kleinaktionäre trotz Gewinneinbruch stabil
„Ich bin nicht frei von Furcht, und ich gebe auch gerne zu, dass mich in den vergangenen Monaten immer wieder Zweifel geplagt haben“, sagte Kullmann. Mitunter seien es „quälende Zweifel“ gewesen, aber auch hilfreiche, „weil wir gezwungen waren, unser Handeln täglich zu überprüfen“. Für Evonik sei die Corona-Krise ein „Härtetest“ gewesen, betonte der Vorstandschef. Aber die Ergebnisse demonstrierten: „Wir haben diesen Test bestanden.“
Mit dem Konzernsitz in Essen und dem Chemiestandort Marl, wo das Unternehmen rund 7000 Menschen beschäftigt, ist Evonik einer der großen Arbeitgeber in NRW. Marken wie Degussa, Hüls und Goldschmidt sind in dem Unternehmen aufgegangen. Die Mehrheit der Evonik-Aktien gehört der RAG-Stiftung, die auf dem Essener Welterbe-Areal Zollverein residiert. Aufgabe des Stiftungskonzerns ist es, Geld für die Ewigkeitskosten des Steinkohlenbergbaus zu erwirtschaften. Etwa die Hälfte der Erträge hatte zuletzt Evonik geliefert. Auch aktuell soll die Evonik-Dividende mit 1,15 Euro je Aktie stabil bleiben – trotz des Gewinnrückgangs. Gemessen am Schlusskurs zum Jahresende 2020 ergibt sich daraus eine Dividendenrendite von 4,3 Prozent.
Kullmanns Parole: „Cash is king“
Im vergangenen Mai habe Evonik zu den wenigen Unternehmen gehört, die überhaupt eine Gewinnprognose für das Gesamtjahr abgaben, hob Kullmann hervor. „Wir haben jetzt geliefert, was wir angekündigt haben.“ Mit einem bereinigten Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) von 1,91 Milliarden Euro seien die selbst gesteckten Ziele erreicht worden. Besonderes Augenmerk legt Kullmann auf die Finanzkennziffer Free Cashflow, die verdeutlicht, wie viel Geld für die Aktionäre eines Unternehmens tatsächlich übrig bleibt. Hier spiele Evonik nun „in der Champions League“ der Branche. „Cash is king“, sagte Kullmann – locker übersetzt: „Geld regiert die Welt.“
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Kullmanns Äußerungen dürften als Signale an potenzielle Anleger verstanden werden. Seit geraumer Zeit liegt die Evonik-Aktie unter dem Ausgabekurs von 33 Euro beim Börsenstart im Frühjahr 2013. Unternehmen wie Evonik, die über einen Mehrheitsaktionär verfügen, tun sich oft vergleichsweise schwer bei Investoren. Doch trotz der Corona-Krise hat der Revierkonzern am Aktienmarkt in den vergangenen Monaten spürbar zugelegt. Im Jahr 2018 hielt die RAG-Stiftung, die unlängst beim früheren Thyssenkrupp-Aufzuggeschäft eingestiegen war, noch fast 70 Prozent der Evonik-Aktien. Aktuell sind es 58,9 Prozent. Es ist absehbar, dass die Beteiligung der RAG-Stiftung an Evonik weiter sinken wird.
Evonik bündelt die Geschäfte in vier Divisionen rund um Produkte für die Pharma-, Kosmetik- und Ernährungsindustrie („Nutrition & Care“), Werkstoffe („Smart Materials“), Additive für die industrielle Anwendung („Specialty Additives“) sowie rohstoff- und energieintensive Basischemie („Performance Materials“). Als „Wachstums-Divisionen“ sieht Vorstandschef Kullmann die drei zuerst genannten Bereiche an. Hier erwirtschafte Evonik mittlerweile 95 Prozent des Ergebnisses der operativen Geschäfte.
Evonik will vom Impfstoff-Boom in der Corona-Krise profitieren
Insbesondere vom Impfstoff-Boom in der Corona-Krise will Evonik profitieren. Evonik-Vorstand Harald Schwager verwies bei der Bilanzpressekonferenz unter anderem auf die Zusammenarbeit mit dem Mainzer Unternehmen Biontech, das wiederum mit dem US-Partner Pfizer kooperiert. Evonik stellt Produkte her, die für Impfstoffe gegen Covid-19 benötigt werden. Zusätzlich zu Werken in den USA und in Kanada baut Evonik derzeit eigene Anlagen an den deutschen Standorten Hanau und Dossenheim auf.
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Für das Geschäft mit saugstarken Materialien, die unter anderem in Babywindeln zum Einsatz kommen, sucht das Evonik-Management einen Käufer oder Partner. Bis zum Sommer werde es Klarheit zum „Superabsorber-Geschäft“ geben, kündigte Kullmann an. Etwa 800 Mitarbeiter, darunter Beschäftigte in Krefeld und Marl, könnten betroffen sein.
„Wir brauchen doch im Ruhrgebiet wenigstens eine starke Fußball-Marke“
In Wesseling bei Köln beendet Evonik die Produktion des Tierfutter-Zusatzstoffes Methionin. Die Anlage aus dem Jahr 1967 ist Unternehmensangaben zufolge die älteste und kleinste Methionin-Produktionsstätte von Evonik. Künftig beschränkt sich der Essener Konzern auf die Produktion an den großen Standorten in den USA, Singapur und Belgien. Rund 100 Mitarbeiter seien in Wesseling von den Schließungsplänen betroffen – rund 70 werde Evonik weiterbeschäftigen, erklärte Personalvorstand Wessel.
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Die Ausgaben für das Sponsoring von Borussia Dortmund hat Evonik deutlich verringert. „Wir sind seit vielen, vielen Jahren dabei und hatten eine tolle Zeit“, begründete Kullmann den Schritt. „Wir sehen aber, dass wir unsere Bekanntheitswerte und auch unsere Imagewerte in Deutschland über das Vehikel BVB nicht mehr verbessern können.“ Daher konzentriere sich Evonik beim Trikot-Sponsoring auf die Auftritte des Fußball-Bundesligisten bei internationalen Wettbewerben und im DFB-Pokal. Der derzeitige Sponsoring-Vertrag laufe bis 2024/25. Bis dahin plane Evonik keine weiteren Kürzungen beim BVB. „Wir brauchen doch im Ruhrgebiet wenigstens eine starke Fußball-Marke und Mannschaft“, sagte Kullmann, ohne dabei den angeschlagenen BVB-Konkurrenten Schalke 04 namentlich zu erwähnen.