Bottrop. Die Bottroper Kokerei von Arcelor-Mittal gerät in Bedrängnis. Künftig könnte das Steag-Kraftwerk Herne als Abnehmer von Kokereigas ausfallen.
Der absehbare Ausstieg aus der Kohleverstromung bringt den weltgrößten Stahlkonzern Arcelor-Mittal am Kokerei-Standort Bottrop in Bedrängnis. „Die Situation ist ernst“, sagte Jens Loock, der für Bottrop zuständige Personalvorstand von Arcelor-Mittal, im Gespräch mit unserer Redaktion. Denn es ist unklar, was mit dem Kokereigas aus Bottrop geschehen soll, wenn eine Verwendung im Herner Steinkohlekraftwerk der Steag nicht mehr möglich sein sollte.
Wochenlang war es weit über Bottrop hinaus sichtbar, was passiert, wenn Arcelor-Mittal sein Kokereigas am Standort Bottrop nicht über eine Pipeline abtransportieren kann. Fast rund um die Uhr brannte eine riesige Hochfackel. Wegen einer undichten Stelle an einer Pipeline am Nordstern-Park in Gelsenkirchen war die Leitung zu den Abnehmern zwischenzeitlich unterbrochen. Das Kokereigas, das in Bottrop abgefackelt wurde, sollte eigentlich im Herner Steinkohlekraftwerk der Steag und in der Gelsenkirchener Raffinerie des Aral-Mutterkonzerns BP eingesetzt werden.
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Das Pipeline-Leck ist nach Angaben von Arcelor-Mittal in der vergangenen Woche geschlossen worden, doch es könnten neue Probleme für den Stahlkonzern entstehen. Denn es zeichnet sich ab, dass die Steag als Kunde für das Kokereigas wegbricht. Schließlich ist ein Ende der Steinkohleverstromung in Herne absehbar – und damit auch eine Verwendung des beigefügten Brennstoffs aus Bottrop. Ironie der Geschichte: Für das neue Gaskraftwerk, dass die Steag bis Ende 2022 bauen will, ist das Kokereigas nach Darstellung von Arcelor-Mittal nicht geeignet.
Arcelor-Mittal hat „Task Force“ für Bottrop gegründet
Der drohende Verlust eines Großkunden könnte gravierende Auswirkungen auf den Bottroper Kokerei-Standort mit rund 460 Mitarbeitern haben. „Das Ende der Kohleverstromung am Standort Herne stellt uns auch vor Herausforderungen“, sagt Jens Loock, der zuständige Personalvorstand von Arcelor-Mittal. „Wenn unser Gas dort nicht mehr verwertet werden kann, benötigen wir eine alternative Lösung.“ Das Unternehmen habe bereits eine „Task Force“ gegründet, die sich mit dem Thema befassen soll.
In welchen Größenordnungen das Kokereigas entsteht, ist in den vergangenen Wochen beim Betrieb der Fackel deutlich geworden. „Ein Transport des Gases zu Kunden in der anfallenden Menge ist ausschließlich per Pipeline möglich“, erläutert der Bottroper Standort-Chef Thomas Degen. Während der Unterbrechung des Pipelinebetriebs sei der Gasometer der Kokerei ohne Abfackeln innerhalb von etwa zwei Stunden gefüllt gewesen. Der Fackelbetrieb war für Arcelor-Mittal zudem mit hohen Kosten verbunden. Arcelor-Mittal-Manager Loock sprach von einer „fünfstelligen Summe Tag für Tag“.
Auch Steag, BP, Uniper und Open Grid Europe sind involviert
Der Liefervertrag für die Steag hat dem Vernehmen nach eine Laufzeit bis Mitte 2023. Die Perspektive danach ist unklar. „Wir arbeiten daran, Möglichkeiten für eine weitere Gasverwertung zu finden“, sagt Loock lediglich. Auch für weitere große Unternehmen aus der Region hat diese Frage Relevanz. Die Pipeline zur Kokerei gehört dem Düsseldorfer Energiekonzern Uniper. Der Betreiber der Leitung ist die Essener Ruhrgas-Nachfolgefirma Open Grid Europe (OGE).
Der Aral-Mutterkonzern BP signalisiert, das Gas aus der Kokerei auch künftig in der Raffinerie in Gelsenkirchen-Scholven nutzen zu wollen. BP sei „weiterhin an einer Abnahme interessiert“, erklärt das Unternehmen auf Anfrage unserer Redaktion. Die Steag betont mit Blick auf Arcelor-Mittal: „Wir sind weiterhin zu Gesprächen bereit, wie es nach 2023 weitergehen kann.“ Gemeinsam mit der Steag entworfene Pläne für den Bau eines Kraftwerks in Bottrop zur Verwertung des Kokereigases hat Arcelor-Mittal vor einigen Wochen gekippt.
„Wasserstoff ist ein Energieträger der Zukunft“
Das Kokereigas hat nach Angaben von Arcelor-Mittal einen hohen Wasserstoffanteil und könnte damit „als Rohstoff für industrielle Prozesse dienen“, wie Konzernmanager Loock erläutert. So könnte Wasserstoff ins Pipelinenetz eingespeist und beispielsweise für den Antrieb von Fahrzeugen, die Stromerzeugung oder die Stahlherstellung verwendet werden. Auch der Arcelor-Mittal-Konkurrent Thyssenkrupp testet derzeit den Einsatz von Wasserstoff bei der Stahlerzeugung, um die Klimabilanz des Konzerns zu verbessern.
„Wasserstoff ist ein Energieträger der Zukunft. Zum Abfackeln ist er zu schade“, sagt Ruhr-Wirtschaftsförderer Rasmus C. Beck im Zusammenhang mit der Bottroper Kokerei. „Die Wasserstoff-Infrastruktur im Ruhrgebiet ist gut und muss weiter ausgebaut werden. Dann können wir Wasserstoff-Region Nummer eins in Deutschland werden.“
Bei klimaneutraler Stahlherstellung haben Kokereien keinen Platz mehr
Thyssenkrupp hat das Ziel ausgegeben, die Stahlproduktion bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu gestalten. Als erster Schritt ist eine Testphase mit der Verwendung kleinerer Mengen von Wasserstoff in einem Hochofen in Duisburg geplant. Ab dem Jahr 2022 sollen schrittweise weitere Hochöfen hinzukommen. Nach 2024 will Thyssenkrupp sogenannte Direktreduktionsanlagen einsetzen, die mit wasserstoffhaltigen Gasen betrieben werden. Bei einer solchen klimaneutralen Stahlherstellung haben Kokereien keinen Platz mehr. Auch Arcelor-Mittal-Manager Loock stellt klar: „Sollte die Stahlerzeugung in ein paar Jahrzehnten vollständig wasserstoffbasiert sein, würden Kokereien nicht mehr gebraucht.
Die Bottroper RAG-Zeche Prosper-Haniel ist Ende 2018 geschlossen worden. Die Kohle für die benachbarte Kokerei, die einst auch zur RAG gehörte, kommt nun ausschließlich aus dem Ausland, insbesondere aus Australien.
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Unter Druck ist Arcelor-Mittal in Bottrop auch geraten, weil das Unternehmen die Zielwerte für den Ausstoß des Schadstoffs Benzo(a)pyren (BAP) überschritten hat. Über die Atemluft aufgenommen wirken die Kokerei-Emissionen krebserregend. Gegenüber der zuständigen Bezirksregierung Münster hat sich Arcelor-Mittal vor knapp einem Jahr verpflichtet, den Schadstoffausstoß zu verringern. Das Unternehmen will nun nach eigenen Angaben die Durchlässigkeit der Ofentüren im Kokereibetrieb verringern und „so schnell wie möglich“ die Einhaltung des Zielwerts erreichen. Zudem soll es verstärkt Messungen der BAP-Werte und Auswertungen durch ein unabhängiges Institut geben.