Nicht nur Fachkräfte werden verzweifelt gesucht, sondern auch immer mehr Helfer. Auch, weil viele Jobs kaum lukrativer als Hartz IV sind.

Die Meldungen häufen sich: Es fehlen Kellner, Köche, Pflegekräfte, Lokführer, Zusteller und viele mehr. Immer mehr Unternehmen beklagen, kein Personal zu finden – und immer noch mehr als zwei Millionen Arbeitslose beklagen, keine Jobs zu finden. Dieses Paradoxon wird unseren Sozialstaat noch an seine Grenzen treiben. Denn jede unbesetzte Stelle schadet dem Unternehmen und dem Staat durch entgangene Einnahmen. Deshalb sollte die Politik statt über die Abschaffung von Hartz IV oder ein bedingungsloses Grundeinkommen darüber diskutieren, wie sie ihr proklamiertes Ziel der Vollbeschäftigung erreichen will.

Die Widersprüche unseres Arbeitsmarktes lassen sich mit allerlei Statistiken, Qualifizierungslücken Langzeitarbeitsloser und wachsenden Ansprüchen selbst in einfachsten Jobs halbwegs erklären, aber nicht lösen. Dass Menschen mit schlecht bezahlter Arbeit am Monatsende kaum mehr haben als eine Hartz-IV-Familie, gehört zur schrägen Wahrheit dazu. Letztlich muss sich der Staat entscheiden, was er lieber finanzieren mag: Arbeitslosigkeit – oder Arbeit, die für das wenige Geld sonst keiner machen würde.

Arbeitslose reißen sich nicht um jeden Job

Der Fachkräftemangel ist hinlänglich beschrieben, der zehnjährige Aufschwung und die sich öffnende Demografiefalle haben ihn schneller Wirklichkeit werden lassen als gedacht. Die meisten Ingenieure, Handwerker und Altenpfleger können sich ihren Arbeitgeber inzwischen aussuchen. Doch der zweigeteilte Arbeitsmarkt mit gut bezahlten Mangelberufen auf der einen und dem aus einem Heer Geringqualifizierter gespeisten Niedriglohnsektor auf der anderen Seite zeigt nun ebenfalls Auflösungserscheinungen. Nicht nur Busfahrer und Lokführer werden verzweifelt gesucht, auch Zusteller für Pakete und Zeitungen, Reinigungskräfte, Bauhelfer – für einfache oder schnell zu lernende Tätigkeiten finden die Unternehmen ebenfalls kaum noch Personal. Ungelernte und Arbeitslose reißen sich nicht um jeden verfügbaren Job.

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Wer diese Debatte auf die derbe Tour führen will, unterstellt den Arbeitslosen Faulheit. Damit wird er in einigen Fällen auch richtig liegen, es gibt die Antriebslosen, und es gibt die Sozialstaatsbetrüger, die mit Schwarzarbeit plus Hartz IV gut zurecht kommen. Doch wer das verallgemeinert, verunglimpft die Mehrheit der Arbeitslosen. Ein Hartz-IV-Haushalt beherbergt häufiger Paare und Familien als Singles. Knapp zwei Millionen Kinder in Deutschland leben in Hartz-IV-Familien. Deren Probleme sind so vielfältig wie die Familienformen. Und ein zentrales Problem ist hier tatsächlich die Frage, ob und wie sehr es sich überhaupt lohnt, arbeiten zu gehen.

Für Hartz-IV-Familien ist es besonders schwer

Eine Gebäudereinigerin wischt einen Flur, ein Job, den viele nicht machen möchten.
Eine Gebäudereinigerin wischt einen Flur, ein Job, den viele nicht machen möchten. © dpa | Jens Büttner

Je mehr Kinder in der Familie leben, desto schwieriger wird es für einen Alleinverdiener, über das Hartz-IV-Niveau zu kommen. Eine vierköpfige Familie erhält je nach Alter der Kinder und Wohnort rund 1800 bis 2200 Euro an staatlicher Hilfe, inklusive Miete und Heizkosten, die etwa im Ruhrgebiet deutlich niedriger sind als in Köln oder Düsseldorf. Ein Vollzeitjob zum Mindestlohn bringt rund 1470 Euro. Wer ihn antritt, bleibt als Alleinverdiener einer Familie vom Staat abhängig, wird dann zum Aufstocker.

Weil er mehr haben soll als jemand, der nicht arbeitet, darf er einen Teil seines Lohns behalten – in seinem Fall 300 Euro. Zum Vergleich: Von einem 450-Euro-Job darf ein Hartz-IV-Empfänger 170 Euro behalten. Vollzeit- statt Minijob brächte also 130 Euro mehr im Monat – gut vier Euro am Tag. Ob das den Aufwand lohnt, entscheiden die einen so und die anderen so. Menschen, die sich für deutlich mehr Freizeit statt etwas mehr Geld entscheiden, kann faul nennen, wer mag. Oder aber den Fehler im System beklagen.

Karlsruhe erschwert Sanktionen

Zu den Stellschrauben, ihn zu beheben, gehört mehr Härte gegen Arbeitslose. Diese Schraube sitzt ziemlich fest: Die Hartz-IV-Sätze sind das Existenzminimum, das jährlich erhöht werden muss – so will es das Bundesverfassungsgericht. Somit kann der Staat nur noch mit der Pflicht zur Jobaufnahme bei entsprechenden Sanktionen die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme erhöhen. Doch selbst diese hat Karlsruhe im jüngsten Urteil beschränkt. Um mehr als 30 Prozent soll Hartz IV nicht mehr gekürzt werden dürfen. Die Politik tendiert ohnehin in die andere Richtung: Linke und SPD-Linke würden die Sanktionen am liebsten ganz abschaffen.

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Die zweite Stellschraube wären höhere Löhne, wobei der Staat nur seinen Mindestlohn anheben kann, um den Abstand vom Niedriglohnsektor zu Hartz IV zu vergrößern. Das Problem daran ist, dass nicht alle Jobs sich auch mit höheren Löhnen noch rentieren. Der Staat kann Unternehmen zwingen, einen bestimmten Lohn zu zahlen, aber er kann sie nicht zwingen, Arbeit anzubieten, die ihn Geld kostet. Der in Deutschland maßvoll eingeführte Mindestlohn hat entgegen aller Unkenrufe bisher unterm Strich keine Jobs gekostet. Aktuell liegt er bei 9,19 Euro die Stunde. Wie sehr ließe er sich erhöhen, ohne damit Jobs zu vernichten?

Frankreich fordert EU-weit höheren Mindestlohn

Der Blick über die Grenze macht skeptisch: Frankreich hat mit 10,03 Euro den nach Luxemburg höchsten Mindestlohn in der EU, aber auch eine der höchsten Arbeitslosenquoten, vor allem unter Jugendlichen. Viele Ökonomen machen dafür auch den hohen Mindestlohn verantwortlich. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert nicht ohne Grund einen europaweiten Mindestlohn, natürlich auf französischem Niveau. Er weiß um den Wettbewerbsnachteil seines Landes.

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Puristen vertrauen auf die Kräfte des Marktes. Können Jobs zum angebotenen Lohn nicht besetzt werden, steigen die Löhne von selbst. Das passiert tatsächlich bereits in manchen Bereichen, etwa in der Pflege, in der Logistik und im Reinigungsgewerbe. Doch wenn Löhne mangels Rentabilität nicht erhöht werden können, bleiben die angebotenen Arbeitsplätze unbesetzt und die Arbeitslosen arbeitslos.

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Der Staat, so scheint es, kapituliert vor der Unwucht zwischen Hartz IV und kaum einträglicherem Niedriglohnsektor. Die bekannte Lösung wäre ein sozialer Arbeitsmarkt, in dem der Staat Jobs, die mangels Wertschöpfung von der Privatwirtschaft nicht besser bezahlt werden können, dauerhaft subventioniert. Das ist umstritten, weshalb die Bundesregierung eine Art sozialen Arbeitsmarkt light geschaffen hat. Er folgt der Logik der wenig erfolgreichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: Für Langzeitarbeitslose übernimmt der Staat den Großteil der Lohnkosten, damit ein Arbeitgeber ihm eine Chance gibt. Das ist sinnvoll, um Menschen, die lange raus aus dem Erwerbsleben sind, wieder an Arbeit zu gewöhnen. Es ändert aber nichts am Grundproblem, dass Menschen, die aus eigener Kraft einen schlecht bezahlten Job finden würden, damit kaum besser dastehen als ohne Job.

Aufstocker müssen mehr behalten dürfen

Als Lösung bleibt somit, dass Aufstocker mehr von ihrem Lohn behalten dürfen. Das spart dem Staat Geld bei Hartz-IV-Empfängern, die wieder arbeiten gehen. Es kostet ihn andererseits Geld, weil deutlich mehr Geringverdiener Anspruch auf Stütze erhalten. Unterm Strich wäre dies ein dickes Minusgeschäft für das Hartz-IV-System, aber nicht zwingend für den gesamten Staat, weil mehr Erwerbstätige auch mehr Sozialbeiträge in die Kassen spülen. Hinzu kommen die volkswirtschaftlich positiven Effekte höherer Kaufkraft und steigender Wertschöpfung mit jedem zusätzlich besetzten Job.

Warum die Politik das scheut? Es kostet zunächst viel Geld, die positiven Effekte kommen zeitversetzt und an anderer Stelle. Auch vergrößern höhere Zuverdienstgrenzen den Kreis der Anspruchsberechtigten und damit die Zahl der Hartz-IV-Empfänger. Das sähe nach einem Rückschritt aus. Richtig wäre es trotzdem. Arbeit staatlich zu unterstützen, ist allemal besser, als sie liegen zu lassen.