Essen. Seit Jahrzehnten pflegen Gewerkschaft IGBCE und Arbeitgeber geräuschlose Tarif-Abschlüsse. Aber nicht 2015. Es drohen die ersten Streiks seit 1971.

Überzogene Forderungen, brüske Zurückweisungen, verhärtete Fronten – Tarifverhandlungen sind reich an Ritualen. Wenn also die Arbeitgeberseite in der zweiten Runde ein von der Gewerkschaft als „Provokation“ empfundenes Angebot vorlegt, welches wohl organisierte Protest-Aktionen nach sich zieht, ist das eigentlich eine Randnotiz der kleineren Sorte. Es sei denn, es geht um die Chemieindustrie. Denn deren einziges Tarif-Ritual bestand seit Jahrzehnten darin, keines dieser Rituale zu pflegen. Nicht von ungefähr datiert der letzte Streik der Chemiearbeiter in Deutschland aus dem Jahre 1971.

Damit wird zum echten Vorgang, was etwa im öffentlichen Dienst der Normalfall ist: Die Tarifpartner gingen nach der zweiten Runde in Neuss im Streit auseinander und warfen sich gegenseitig Halsstarrigkeit vor. Damit bröckelt die seit Dekaden so sorgsam gepflegte Sozialpartnerschaft, mit der beide Seiten bisher sehr gut leben konnten. Die Lohnabschlüsse waren meist überdurchschnittlich, hinzu kamen qualitative Verträge etwa zur Altersvorsorge, die Vorbildcharakter hatten. Die Konzerne wiederum konnten Produktionsausfälle nicht gebrauchen, so waren Bayer, Evonik, BASF und Hoechst geräuschlose Abschlüsse nur recht. Dazu kam es dann auch fast immer in jener zweiten Runde, die diesmal so ganz anders verlaufen sollte.

IGBCE plant Großdemonstrationen

Nun plant die Gewerkschaft Großdemonstrationen, in NRW sind für den 21. März die Beschäftigten von Bayer, Evonik, Lanxess & Co. aufgerufen, zur Kundgebung mit IGBCE-Chef Michael Vassiliadis nach Köln zu kommen.

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Die IGBCE fordert 4,8 Prozent mehr Geld für die bundesweit rund 550.000 Beschäftigten in der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Die Arbeitgeber bieten 1,6 Prozent nach zwei Nullmonaten mit einer Laufzeit von 15 Monaten. Hans-Carsten Hansen, Verhandlungsführer der Arbeitgeber, fordert einen „äußerst moderaten Lohnabschluss“ und begründet dies vor allem mit der niedrigen Inflation. Er bietet zudem eine Einmalzahlung von 200 Euro in den Demografiefonds an, mit dem die Branche Altersteilzeit und Vorsorgemodelle finanziert. Zugleich betonte Hansen: „Ein Plus beim Entgelt bedeutet ein Minus bei der Demografie und umgekehrt.“

Rücksicht auf Mittelständler nehmen

Bei der IGBCE zeigt man sich „irritiert“. Verhandlungsführer Peter Hausmann zieh die Arbeitgeber gar der „Ignoranz und Arroganz“, was bisher so gar nicht sein Tonfall war. Der schwache Euro und der niedrige Ölpreis entlasteten die Industrie enorm, betont die IGBCE, der Branche gehe es gut. Sie bestehe aber nicht nur aus den Großen, sondern auch Mittelständlern, denen es vielfach nicht so gut gehe, entgegnen die Arbeitgeber. Und der niedrige Rohölpreis müsse an die Kunden weitergegeben werden.

Auch dieses Hin und Her ist üblich, nur nicht in der Chemie. Die IGBCE tut nun, was sie ewig nicht getan hat: Sollte es in der dritten Runde Ende März keine Einigung geben, will sie in die Schlichtung – es wäre das erste Mal seit 20 Jahren. Zu den Gepflogenheiten der Chemie gehört auch, dass erst nach dem Scheitern der Schlichtung gestreikt werden darf. Selbst das sei nun nicht mehr ausgeschlossen, warnt die IGBCE. Es wäre das erste Mal seit 44 Jahren.