Essen. Sie wurden geschlagen, mussten hart arbeiten, wurden schikaniert, gedemütigt, missbraucht. Kinder und Jugendliche, die in den 50er und 60er Jahren in ein kirchliches Heim kamen, landeten nicht selten in einem Vorhof zur Hölle. Es waren Gottes verlassene Kinder.

„Das begann manchmal von einem Tag auf den anderen”, sagt Professor Traugott Jähnichen von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr Universität Bochum. Er untersucht mit seinem katholischen Theologie-Kollegen, Professor Wilhelm Damberg, im Auftrag beider Kirchen, wie es aussah in den damaligen Heimen; fragt nach Misshandlungen und Missbrauch, ob es Einzelfälle waren oder ob das systematisch dazugehörte. Von rund 1000 Heimen mit etwa 700 000 bis 800 000 Kindern gucken sie in drei Beispielregionen: NRW, Niedersachsen und Bayern. Dort war der Anteil kirchlicher Heime besonders hoch.

Damals, sagt Jähnichen, konnte die Scheidung der Eltern ein Kind ins Heim bringen. „Scheidung war ein häufiger Grund”, fand das Team von Jähnichen und Damberg heraus. „Und dann kommt ein Kind aus einer vorher halbwegs normalen Familie da an, kommt in den riesigen Schlafsaal, kleinere Zimmer gab's praktisch nicht. Es herrschte quasi militärischer Drill. Das war traumatisch für Kinder.”

Vieles kam hinzu. „Das begann schon mit den äußeren Bedingungen.” So fanden die Forscher heraus, dass in den Heimen katastrophaler Personalmangel herrschte. 20 bis 30 Prozent der Stellen blieb ständig unbesetzt. „Die Betreuer waren weniger qualifiziert als heute”, so Jähnichen. Ein Grund für schlechte Personallage: Die Bezahlung war miserabel, die Betreuer mussten im Heim wohnen. Die Nonnen und Diakonissen, oft betagte Damen, „hatten andere Ordnungsvorstellungen als die meisten Kinder und Jugendlichen.” Lange Haare oder populäre Musik waren tabu.

Die Finanzierung war schlecht. „Die Heime waren teilweise Selbstversorger.” Die Folge: Die Jugendlichen mussten auf dem Feld oder in der Küche schuften. Hinzu kam ein „Kartell des Schweigens.”

Und dann die Strafen. „Bettnässer wurden windelweich geprügelt. Das hat zu psychischen Störungen geführt, unter denen sie noch heute als Erwachsene leiden.” Oftmals hätten Kinder mit ihrem Laken an anderen Kindern vorbei laufen müssen, damit es alle sehen. Dabei, sagt Jähnichen, hätten viele Kinder mit dem Bettnässen doch auf die Heim-Unterbringung reagiert.

Brutalität der Erzieher habe es ohne Zweifel gegeben, so Jähnichen und Damberg, häufiger jedoch seien Auslöser für Übergriffe Überforderung der Erzieher und eine Pädagogik gewesen, „die vom Schlagen nicht lassen wollte”. Die, sagen die Forscher, habe es allerdings in dieser Zeit auch in Familien gegeben.

Über die Ausmaße des sexuellen Missbrauchs gibt es erst wenige Ergebnisse. Doch die religiöse Erziehung mit rigiden Vorschriften wie dem Beichtzwang habe für viele Kinder traumatische Folgen gehabt, weiß Wilhelm Damberg. Die gesamte Sexualität sei extrem aufgeladen gewesen, „je nachdem, wie die Aufsicht damit umging”. Und die Diskrepanz zwischen Zucht im Alltag und dem Gerede von Liebe in den Gottesdiensten hätten Betroffene als entlarvend, als schockierend erfahren. „Viele sind damit gar nicht klar gekommen.” Herausgefunden hat Uwe Kaminsky, wissenschaftlicher Mitarbeiter, dass einige Heimkinder in den 60er Jahren Medikamente nehmen mussten – um sie psychisch zu beeinflussen.

Viele dunkle Ecken

sind noch unerforscht

Neuland in der Forschung. „Man kann das als Ruhigstellung bezeichnen”. Bisher hat das Bochumer Team einige dunkle Ecken im Vorhof zur Hölle, in dem Gottes verlassene Kinder lebten, ausgeleuchtet. Vieles jedoch liegt noch im Dunklen. Die Forschungen sind noch nicht abgeschlossen.