Berlin/Essen. Ein Runder Tisch in Berlin befasst sich mit dem Martyrium der Heimkinder in den 50er- und 60er-Jahren. Auch Entschädigungen für Betroffene sind im Gespräch.

Es sind Erfahrungsberichte, die einem den Atem rauben. Ehemalige Heimkinder erzählen, wie ihnen brutal die Jugend geraubt wurde. Angeblich „zum Schutz vor Verwahrlosung” wurden sie in der Nachkriegszeit in Heimen untergebracht, in denen Schläge, Erniedrigungen, Misshandlungen und sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung waren.

„Als ich 1964 aus dem Heim entlassen wurde, war ich körperlich und seelisch ein Wrack”, sagt ein Betroffener, der drei Jahre „in einem christlichen Arbeitslager” war. „Ich war verängstigt, unselbstständig und konnte niemandem in die Augen schauen.” Nachzulesen sind die erschütternden Lebensgeschichten auch auf der Internetseite des Vereins ehemaliger Heimkinder (www.veh-ev.org).

Entwürdigende Bestrafungen, willkürliches Einsperren und vollständige Entmündigung

Seit Dienstag beschäftigt sich in Berlin ein „Runder Tisch” mit dem Schicksal der Heimkinder in den 50er- und 60er-Jahren. Der Bundestag hatte sich auf Anregung des Petitionsausschusses für dieses ungewöhnliche Vorgehen entschieden. Unter der Leitung der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) soll das Gremium das Unrecht aufarbeiten, das die Heimkinder erlitten haben. In der Petition hieß es, viele der jungen Heimzöglinge hätten unter entwürdigenden Bestrafungen, willkürlichem Einsperren und vollständiger Entmündigung durch die Erzieher gelitten.

„Das Schicksal der Heimkinder ist bedrückend und ein viel zu lange verdrängtes Thema”, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) der WAZ. Für die schwierige Aufgabe der weiteren Aufarbeitung des geschehenen Unrechts werde „große Hartnäckigkeit erforderlich” sein, erklärte Lammert. Der Runde Tisch sei „ein Signal der Hoffnung” für die längst erwachsenen Opfer.

„Rigides Law-and-Order-Denken”

Antje Vollmer nannte es „besonders tragisch”, dass fast alle Heime in kirchlicher Trägerschaft waren. Die Kinderheime seien „keine Orte der Freiheit im Geiste des Evangeliums” gewesen, sondern hier habe ein „rigides Law-and-Order-Denken” geherrscht. Keineswegs gehe es ihr allerdings um „eine neue Antikirchenkampagne”, betonte Vollmer.

Im Raum stehen auch Forderungen nach Entschädigungen für die ehemaligen Heimkinder – vermutlich mehrere tausend Betroffene. Zu möglichen Entschädigungszahlungen sagte Vollmer: „Wir werden alles prüfen, schließen nichts aus, werden aber auch nichts garantieren.”

Sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche drückten den Betroffenen ihr Bedauern aus. „Es tut uns unendlich leid”, sagte der EKD-Vizepräsident Hans Ulrich Anke. Für die Deutsche Bischofskonferenz erklärte Johannes Stücker-Brüning, man bedauere zutiefst, „dass offenbar auch in katholischen Heimen Kindern und Jugendlichen Unrecht und schweres Leid widerfahren ist”.

Zahlen darüber, wie viele Kinder und Jugendliche in Heimen des Ruhrgebiets waren, liegen nicht vor. Die Nachforschungen stecken oft erst in den Anfängen. Die Diakonie Rheinland, Westfalen und Lippe erklärte, es habe damals mehrere Dutzend Einrichtungen gegeben, etwa in Bethel, Neukirchen-Vluyn und oder in Mülheim. „Wir möchten das aufklären”, erklärte Diakonie-Sprecher Ulrich Christenn. Auch der Deutsche Caritasverband legt Wert auf einen offenen Umgang mit den Anliegen ehemaliger Heimkinder. „Viele von ihnen möchten ihre Akten einsehen”, sagt Caritas-Sprecherin Claudia Beck. „Viele wollen über ihre Erlebnisse sprechen. Und die jetzigen Heimleitungen nehmen sich dafür auch viel Zeit.”

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