Essen. Sie wurden gezwungen ihr Erbrochenes zu essen, sich vor den Küchenmädchen auszuziehen oder den benässten Strohschlafsack zu tragen: Ehemalige Heimkinder berichten von der schrecklichen Praxis der Nachkriegszeit. Nur langsam bricht das Trauma auf.

Schreien war zwecklos. Wer hätte ihm schon helfen sollen? Den kleinen Knirps von acht Jahren, dessen Mutter gerade gestorben war, wollte niemand haben. Deshalb war er ja im Heim. Deshalb war er Nonnen ausgeliefert, die ihn mit eiserner Hand erzogen. Im katholischen St.-Joseph-Kinderheim in Essen-Kettwig erlebte Karl Verstappen die furchtbarste Zeit seines Lebens. „Ich wurde nicht sexuell misshandelt”, sagt der heute 68-Jährige, „ich musste nur mein Erbrochenes essen.”

Das alles liegt lange zurück. Doch das Jahr 1945 lässt ihn nicht mehr los, es hat sich wie ein Schatten auf seine Seele gelegt. „Erst als Erwachsener begreifst du, was sie mit dir gemacht haben”, sagt Karl Verstappen heute. Alle Demütigungen und alle Verletzungen im Namen des Herrn unter den hölzernen Kruzifixen des Heimes haben ihn geprägt. Und als das St.-Joseph-Heim sein 150-jähriges Bestehen feierte, durfte er das schlimme Kapitel erinnern. „Viele Menschen haben geweint”, erzählt der Mann.

"Ich war das Gespött für jeden"

Man merkt ihm an, dass es ihm gut tat, über sein Trauma sprechen zu dürfen. Zum Beispiel wegen dieser Erinnerung. „Ich war Bettnässer. In den Augen der Nonnen war das eine sträfliche Schwäche. Und das ließen sie mich spüren.” Zur Strafe musste der damals 8-Jährige den eingenässten Strohsack, auf seinem Rücken tragen. „Der Strohsack wurde mit zwei Lederriemen an mir befestigt. Ich konnte ihn nicht losmachen. Ich war das Gespött für jeden.” Auch diese Episode lässt ihn nie mehr los. „Damals starb ein kleines Mädchen. Ihrer Zwillingsschwester wurde verboten, zu weinen”, sagt der 68-Jährige. Seit dieser Zeit im Heim hat er nicht mehr gebetet.

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Die WAZ bittet ehemalige Heimkinder, sich zu melden. Wir wollen berichten – damit das große Leid nicht vergessen wird. Einsendungen bitte an: rhein-ruhr@waz.de oder WAZ, Rhein-Ruhr, Friedrichstr. 47, 45128 Essen. In beiden Fällen bitte mit Betreff/Stichwort: „Heimkinder”.

Regina Eppert hat ihren Albtraum im Vincenz-Erziehungsheim in Dortmund erlebt. Stellvertretend für alle Heimkinder hat sie unter ihrem Mädchennamen Regina Page ihre Erinnerungen unter dem Titel „Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend – Zwangseinweisung in Deutsche Erziehungsheime” in einem Buch veröffentlicht. Dort ist zu lesen, dass sie zunächst als Flüchtlingskind zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einem Auffanglager in Altena lebte. Als sie im Jahre 1960 mit 18 Jahren zum zweiten Mal schwanger wurde, wurde sie als Schwererziehbare zwangseingewiesen. Weggesperrt in einen Backsteinbau im Dortmunder Norden. Unter der Aufsicht der „Barmherzigen Schwestern”, die das kalte Regiment im Vincenz-Heim innehatten, musste sie später ihr Kind abgeben. Durfte es nur noch sehen, wenn die Nonnen es erlaubten. Der Kontakt wurde auf einmal pro Woche beschränkt. Diese Zeit, die von Demütigungen und Züchtigungen geprägt war, beschreibt Regina Eppert als die „schrecklichste meines Lebens”. Lachen, sprechen, weinen waren verboten. Hart arbeiten in einer Heißmangel allerdings nicht.

Im Heim wurde es nicht besser

Auch Michael-Peter Schiltzky, einst Geschäftsführer des Vereins ehemaliger Heimkinder, hat sein Schweigen gebrochen. Von 1957 bis 1962 lebte er im Knabenheim in Westuffeln. Über diese Jahre hat er dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages berichtet. Schiltzky ist neun Jahre alt, als seine mittellose Mutter ihn abgibt. Weil er Jahre lang auf zusammen gestellten Apfelsinenkisten schlafen musste und kaum etwas zu essen bekam, war er sogar froh darüber. „Ich glaubte, mir würde es dort besser gehen.” Unbegründet – wie sich sofort herausstellte.

„Gleich in den ersten Tagen kam jemand nachts in den dunklen Raum und legte sich zu mir ins Bett”, sagt Schiltzky. Zuwendung, die der Junge nicht will, aber die er nicht ablehnen darf. „Das Schlimme waren nicht die Schläge, die man dann aufgezählt bekam, sondern, dass man vor den einzigen weiblichen Personen, die es im gesamten Heimgelände gab, nämlich dem Küchenpersonal, die Hosen runterlassen musste.” Das Heim war Selbstversorger. Und so musste Scheltzky täglich mehrere Stunden arbeiten: in der Küche, beim Kartoffelschälen, im Park, im Gewächshaus oder in den Ställen bei den Schweinen, den Hühnern, Schafen und Eseln. Der Tag begann mit der Arbeit vor dem Frühstück. Erst danach ging es in den Speisesaal zur täglichen Haferschleimsuppe.

„Ich verstehe mich als Mahner für die Gegenwart. Damit so etwas nie wieder passiert”, sagt er.