Gelsenkirchen. Wahrscheinlich viereinhalb Jahre blieb die Leiche eines Gelsenkircheners unentdeckt – in einem Vierfamilienhaus. Mitte Fünfzig war er vielleicht, als man ihn aus den Augen verlor, schließlich vergaß. Man dachte wohl auch, er sei endgültig verzogen.
Mumifiziert! Das ist das Wort, mit dem die Polizei die Leiche des vergessenen Nachbarn beschreibt. Man muss ihn so nennen, denn seine Identität ist noch nicht geklärt, nur soviel: Er muss ein einsamer Mensch gewesen sein, der alle sozialen Netze verfehlte – dessen Abschied von dieser Welt niemandem auffiel. Mehr als vier Jahre lang lag der vergessene Nachbar wahrscheinlich in seiner Souterrain-Wohnung in Gelsenkirchen-Feldmark und mumifizierte. Wenn es sich denn um den letzten Mieter handelt, wurde er Ende 2004 das letzte Mal gesehen.
Drei weitere Parteien wohnen in dem Haus am schöneren Ende der Fürstinnenstraße, ein gepflegtes, bürgerliches Eckhaus. „Man kennt sich hier”, erklärte eine Mieterin auf Nachfrage. Nur eben diesen einen Nachbarn, mit dem „hatte niemand Kontakt.” Es sei normal gewesen, dass er für Monate verschwand. Mitte Fünfzig war er vielleicht, als man ihn aus den Augen verlor, schließlich vergaß. Man dachte wohl auch, er sei endgültig verzogen.
Kein überfüllter Briefkasten
Schließlich gab es keinen überfüllten Briefkasten, die Stadt Gelsenkirchen hatte den letzten Mieter im Oktober 2004 amtlich abgemeldet, weil eine Wahlbenachrichtigung nicht zugestellt werden konnte. Ob dieses Vorgehen korrekt war, muss nun geklärt werden.
Die Mietzahlungen jedenfalls liefen bis zum heutigen Tag weiter, ebenso die Daueraufträge für Wasser und Strom. Genug Geld war also noch auf dem Konto, obwohl die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte die Rentenzahlungen bereits Anfang 2008 eingestellt hatte – der Grund ist noch nicht bekannt. Ob es Angehörige gab, wird geprüft, die Rechtsmedizin Essen untersucht den Leichnam. Dass er vertrocknete und nicht verweste, ist jedenfalls nicht ungewöhnlich, Polizeisprecher Guido Hesse schreibt es den Luft- und Temperaturverhältnissen zu.
Gefunden durch Wasserschaden
Der vergessene Nachbar hätte wohl auch noch deutlich länger liegen können, wenn nicht ein Wasserschaden im Haus aufgetreten wäre. Der Installateur musste in die Wohnung, im Auftrag der Hauseigentümerin öffnete ein Schlüsseldienst die Tür . . .
Essener blieb sieben Jahre unentdeckt
Der Fall erinnert an den Fund einer Leiche in Essen, die sieben Jahre unentdeckt in ihrer Wohnung lag. Ein Student hatte zuletzt neben dem Mieter gewohnt. Erst nachdem das heruntergekommene Haus in neue Hände gelangte, wurde der Mann gefunden, dem das Amt noch Jahre nach seinem Tod Sozialhilfe überwies. Das war im Mai 2007. Nur wenig später hörte man Schauerliches aus Gladbeck: Zwei Monate lang ignorierten die Nachbarn den furchtbaren Gestank im Flur. Und im Oktober des selben Jahres fand man im Essener Stadtteil Altendorf eine stark skelettierte Leiche – sie hatte ein halbes Jahr gelegen.
„Es gibt nur wenige solche Fälle”, sagt Mirco Theiner, Geschäftsführer des Mieterbundes NRW. „Die, die veröffentlicht werden, sind in der Regel auch die einzigen, die es gibt.” Dennoch: Nachbarschaftliche Aufmerksamkeit will der Mieterbund gezielt fördern. „Wir wollen Stadtteilzentren aufbauen in Kooperation mit den Sozialdiensten. „Aber das fängt gerade erst an.”
In Gelsenkirchen steht ein ähnliches Projekt kurz vor dem Start: Senioren sollen als „Nachbarschaftsstifter” wirken”, wie Sozialdezernentin Henriette Reker erklärt. „Besonders im Ruhrgebiet hat die Nachbarschaft ja Tradition. Die Menschen, die miteinander arbeiteten, haben oft auch in Siedlungen miteinander gewohnt. Mit der neuen Flexibilität gibt es dieses lange Wohnen nicht mehr.” Das Projekt will hier anknüpfen. „Aber Menschen, die sich zurückziehen wollen, können wir damit auch nicht erreichen.”