Berlin. Wer positiv denkt, der sagt: Die deutsche Leichtathletik lebt! Schaut euch ab heute die WM in Berlin an. Ein volles Stadion, pralle Fernsehbilder. Wir sind wieder wer! Wer negativ denkt, sagt: Die deutsche Leichtathletik ist von ihrer besten Zeit soweit entfernt wie Liz Taylor. Eine Analyse

Wer positiv denkt, der sagt: Die deutsche Leichtathletik lebt! Schaut euch ab heute die WM in Berlin an. Ein volles Stadion, pralle Fernsehbilder. Wir sind wieder wer!

Wer negativ denkt, der sagt: Die deutsche Leichtathletik ist von ihrer besten Zeit soweit entfernt wie Liz Taylor. Die WM ist die Abschiedsparty, danach versinkt die olympische Kernsportart hierzulande im Nichts. Wir sind wieder leer!

Was denn nun?

Die Spurensuche beginnt morgens um halb neun neben der Berliner Gedächtniskirche. Der Deutsche Leichtathletik-Verband ist im Chrompalast seines Sponsors Nike zu Gast. Es gibt Lachs zum Frühstück. Geher Andre Höhne, schmal wie ein gefaltetes Handtuch mit Kopf, plaudert über seine WM-Chancen. Hammerwerfer Markus Esser versucht ein paar Meter weiter, die Technik seiner Disziplin zu erklären, aber er scheitert. Für Laien ist Hammerwerfen zu komplex.

Also folgt die übliche Frage nach Essers Medaillenchancen, der Leverkusener zuckt mit den Schultern. Was soll er antworten? Natürlich geht es bei einer WM um Medaillen, aber in Berlin geht es um mehr: Ums Überleben einer Sportart.

Identifikationsfiguren

Esser bricht diese Problematik auf sein persönliches Umfeld herunter: „Meine Familie muss jeden Tag essen”, sagt er. „Allein vom Hammerwerfen kann ich sie aber nicht ernähren, ohne meine Stelle bei der Bundeswehr würde das nicht funktionieren.”

Die deutschen Leichtathletik-Stars sind nicht groß genug. Franka Diskus, geborene Dietzsch, startet mit 41 Jahren zum zehnten Mal bei einer WM, sie hat drei Goldmedaillen gewonnen und arbeitete zwischen den Titelkämpfen immer in der Sparkasse Neubrandenburg. Sie ist eine nette Frau; erfolgreicher sind nur wenige, aber sie ist kein Star. Im deutschen Team fehlen Identifikationsfiguren. Zum Beispiel Läufer, die ein breites Publikum elektrisieren. Ein deutscher Laufweltmeister wäre für den DLV nicht nur sein Geld wert, er wäre in der Vermarktung Gold wert.

Denn: Die deutsche Leichtathletik hat ein Problem mit dem Massenpublikum, dem das Bewusstsein für das Laufen, Springen und Werfen abhanden kommt. Der Grund liegt in der mangelnden Fernseh-Präsenz, die während der WM mit einem Überangebot gebrochen wird. Bernhard Lagat, US-Doppelweltmeister über 800 und 1500 Meter, lässt sich von der Ausnahmesituation nicht blenden und trifft den Fernseh-Alltag auf den Punkt: „Die Leichtathletik schafft es immer nur dann in die Hauptnachrichten, wenn es um Doping geht.”

Lamine Diack stört dieser Automatismus offensichtlich nicht. Der Präsident des Weltverbandes IAAF steuert in Berlin an diesem Thema vorbei. Wichtig für ihn: Weltrekorde, die der Senegalese auch mit 76 Jahren noch am liebsten selbst aufstellt. So nahm die IAAF in Berlin den Inselstaat Tuvalu mit seinen 12 000 Einwohnern als 213. Mitglied auf. Größer war die Leichtathletik-Familie nie.

Diack lächelt, während es in Berlin kracht. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit freut sich zwar über die Werbewirksamkeit der WM, doch die Hotels sind nicht ausgebucht. Es gibt auch noch 180 000 der 500 000 Eintrittskarten, und das Istaf hat sich vor der WM verabschiedet.

Das Sportfest Istaf war seit 1937 die große deutsche Leichtathletik-Nummer, der Treffpunkt der internationalen Stars. In diesem Jahr lief der Vertrag aus, das Istaf fliegt aus der Veranstaltungsreihe „Golden League” und zieht als eine Art Zweitligist ins kleine Jahn-Stadion am Prenzlauer Berg.

Im Olympiastadion bleibt der Fußball zurück. Hertha BSC und das Pokalfinale, dabei wurde das Stadion mit 250 Millionen Euro aus Steuergeldern nicht zuletzt für die WM renoviert. Aber Fußball gegen Leichtathletik ist wie King Kong gegen Bambi.

Ein Teufelskreis. Neben Fußball fließt das Geld des Fernsehens in den Wintersport. Mit diesen Einnahmen finanzieren Biathleten und Ski-Langläufer Trainingslager und einen großen Betreuerstab. Die Folge: Athleten aus Thüringen gewinnen mehr Medaillen als die Wintersportnation Kanada.

Die Leichtathleten haben keine Fernsehgelder, also bleiben sie zum Training zuhause. Siegertypen können sie so nicht produzieren, zudem herrscht keine Einigkeit. Die Leichtathletik besteht aus 47 olympischen Disziplinen, wobei Hammerwerfen und Gehen soviel miteinander zu tun haben wie Dressur-Reiten und Rollhockey: Nichts! Das macht eine gemeinsame Strategie schwierig.

Daher sieht es so aus, als wäre die WM tatsächlich die Abschiedsparty für die Top-Leichtathletik in Deutschland. Die WM in zwei Jahren mit Stars wie Usain Bolt und Tyson Gay findet in Daegu statt. Wo das liegt? In Südkorea. Viele deutsche Fans werden nicht dorthin hinfahren.