Berlin. Eine Stoffsammlung für radikale Reformen in der Sozialpolitik sorgt in Berlin für politische Unruhe: Minister Guttenberg hatte die Referentenvorschläge zwar verworfen, dennoch liefert das der SPD eine Wahlkampf-Steilvorlage. Tenor: Die Union lässt die Katze aus dem Sack

Als Karl-Theodor zu Guttenberg das Papier las, hat er es komplett verworfen. „So geht es nicht”, entfuhr es dem Wirtschaftsminister. Für seine Referatsleiter hieß das: Gehe zurück auf Los. Sie sollten ihr „industriepolitisches Konzept” noch einmal überarbeiten. Das ist nicht ungewöhnlich. Dumm ist bloß, dass die Stoffsammlung zum Wochenende bekannt wurde. Seither echotet die SPD, „So geht es nicht” und freut sich insgeheim über die Steilvorlage im mauen Wahlkampf.

Gewerkschafter & Co auf der Palme

Denn das Papier enthält Vorschläge, die Gewerkschafter, Linke, Grüne und Sozialdemokraten auf die Palme bringen, insbesondere zum Thema Arbeitsmarkt. Sie lesen zum Beispiel ungern, dass Mindestlöhne „die notwendige Flexibilität” einschränken, die Arbeit verteuern und so die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen „gefährden”.

Es gibt drei Gründe, warum das Papier so viel Aufsehen erregt. Zunächst ist derzeit Wahlkampf – und Sommerpause. In Berlin ist wenig los, umso mehr erscheint alles wie unter einem Brennglas. Es wäre freilich nicht das erste Papier, das als Stoffsammlung lanciert wird, um sich später als Blaupause zu entpuppen. Auch die Agenda 2010 hat mit einem unverbindlichen Konzept aus dem Kanzleramt angefangen.

Aufgaben, die tatsächlich anstehen

Versuchsballons zu starten, gehört zum Polit-Handwerk. Das Papier mutet inhaltlich nicht willkürlich an. Es beschreibt Aufgaben, die nach der Wahl tatsächlich anstehen, zum Beispiel die große Reform der Pflegeversicherung. Dazu empfehlen die Experten im Wirtschaftsministerium, Beiträge möglichst von den Arbeitskosten zu entkoppeln. Eine weitere Reizvokabel ist jede Erhöhung der Mehrwertsteuer; und sei es „nur” der ermäßigten Sätze, um im Gegenzug Senkungen der Einkommensteuer zu bezahlen.

Vor Monaten hatte der Minister das Konzept in Auftrag gegeben. Der erste Entwurf vom 3. Juli, den er dann Ende des Monats verwarf, ist 63 Seiten lang. Es enthält nach Angaben von Ministeriumssprecher Steffen Moritz „etwa 300 verschiedene Vorschläge”. Zu Guttenberg wolle ein Konzept allerdings „so schnell wie möglich” vorlegen – sobald das Ministerium es in Form und Inhalt überarbeitet habe. So etwa will der CSU-Mann keine Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne machen, sondern sich auf Industriepolitik konzentrieren.

Der Mann rudert zurück. Ganz offenkundig steht er unter der verschärften Beobachtung des Kanzleramts. Angela Merkels Sprecher Ulrich Wilhelm betonte gestern, dass der „obsoleten Stoffsammlung” kein Auftrag der Kanzlerin zugrunde lag. Da spürt man zwischen den Zeilen eine Distanzierung, die plausibel ist. Schließlich will die Kanzlerin der SPD keine Angriffsfläche bieten. Zu Steuersenkungsplänen sagte sie erst vor wenigen Tagen, die CDU verfolge maßvolle Pläne. „Ich sage wirklich maßvoll”, bekräftigte Angela Merkel.

Die SPD wittert die Gunst der Stunde. Zu Guttenberg war bereits in der Opel-Krise ihr Lieblingsgegner. Nun wird sein Papier als Gegenentwurf zum „Deutschlandplan” der SPD verstanden. Und fast jeder führende Sozialdemokrat ritt Attacken gegen den CSU-Mann.

Hoffnung auf die Wahlkampfwende

Bundefinanzminister Peer Steinbrück beklagte, zu Guttenberg wolle den Gemeinden in der Krise die Gewerbesteuereinnahmen streichen. Tatsächlich finden sich im Papier Vorschläge, um die Belastungen der Betriebe zu senken. Umweltminister Sigmar Gabriel schimpfte, das Konzept bestätige „die schlimmsten Befürchtungen”. Was Herr zu Guttenberg anstrebe, „lässt mich grausen”, ärgerte sich der Kanzlerkandidat der SPD, Frank-Walter Steinmeier. Zudem meldeten sich führende Gewerkschafter kritisch zu Wort.

Vor vier Jahren markierten die Angriffe auf den Steuerexperten Paul Kirchhof die Wende im schon damals verzweifelten Wahlkampf der SPD. Auch jetzt versucht sie, die Union als Partei der sozialen Kälte in die Ecke zu stellen. Das Papier kommt wie bestellt. „Herr Guttenberg”, so Arbeitsminister Scholz, „hat die Katze aus dem Sack gelassen”.