Essen. Jedes Jahr flüchten mehr als 4000 Kinder mit Ihren Müttern vor häuslicher Gewalt. "Derya" ist eins davon. Das 15-jährige Mädchen ist auf der Flucht - vor ihrem Vater, vor Schlägen und ständiger Kontrolle. In einem Frauenhaus fand sie Zuflucht und Sicherheit.

Sehnsüchtig blickt Derya* aus dem Fenster in die Ferne. Träumt von der Freiheit, die sie nie hatte. Das 15-jährige Mädchen ist auf der Flucht. Geflohen vor ihrem Vater, geflohen vor Gewalt, vor Schlägen und ständiger Kontrolle. Mit ihrer Mutter und zwei jüngeren Geschwistern hat sie in einem Frauenhaus irgendwo im Ruhrgebiet Zuflucht gefunden. Sie ist eins von mehr als 4000 Kindern, die allein in NRW jedes Jahr dieses Schicksal teilen.

„Wenn wir abends nach Hause kamen, stand er schon da mit dem Stock in der Hand und hat auf uns gewartet,” erzählt sie. „Dann mussten wir uns in einer Reihe aufstellen.” Der Vater habe Fragen gestellt, und wer die Antwort nicht wusste, bekam Prügel. „Erst schlug er uns mit dem Stock auf die Hände, aber wenn wir unaufmerksam waren, gab's auch eins auf den Kopf.”

Mit klarer Stimme spricht Derya über die schrecklichen Erlebnisse ihrer Kindheit. Das Leid, das sie ertragen hat, ist ihr dabei nicht anzumerken. Sie wirkt wie ein ganz normaler Teenager, ist modisch gekleidet. Ihr braunes Kopftuch harmoniert mit ihren braunen Augen. Sie trägt ein schwarzes Oberteil und einen langen Rock. Ihr bildhübsches Gesicht wirkt zart und zerbrechlich. Aber Derya ist stark und lässt sich von ihrem Vater nicht länger einschüchtern.

Zu lange hat der ihr Leben kontrolliert. „Ich durfte nur auf dem Spielplatz gegenüber spielen, und mein Vater hat uns immer vom Fenster aus beobachtet, ob wir noch da sind.” Nur ein oder zwei Stunden durften sie nach draußen und wenn sie zu spät nach Hause kamen, „dann gab's Saures”. Ihrem älteren Bruder sei es noch schlimmer ergangen. Er habe in solchen Fällen auf dem Balkon schlafen müssen. „Wir waren nie gut genug für meinen Vater”, sagt die 15-Jährige und senkt traurig den Blick.

Deryas Eltern kommen aus der Türkei, sie selbst ist in Deutschland zur Welt gekommen. Ihr Vater arbeitete im Bergbau, konnte nach einem Unfall jedoch nicht mehr regelmäßig zur Arbeit gehen, war viel zu Hause. „Die Zeit war sehr schlimm. Für meine Mutter, für mich und für meine Geschwister.”

Ihre gesamte Kindheit musste Derya die Aggressionen des Vaters ertragen. Sie musste mit ansehen, wie er die Mutter schlug. „Wir waren wie Sklaven, mussten meinem Vater das Wasser einschütten und das Essen bringen”, sagt Derya. Immer wieder habe sie ihrer Mutter gesagt, dass sie sich von ihrem Vater trennen solle, doch der fehlte lange die Kraft.

Ein paar Mal hat sie es versucht, zuletzt 2004. Damals sei ein Streit eskaliert. Ihre Mutter habe ihren Vater mit einem Messer bedroht, und die beiden gingen kurz getrennte Wege. Dann sei ihr Vater zurückgekommen. „Er hat so sehr geweint, da habe ich meine Mutter überredet zurückzugehen”, sagt Derya, die zu der Zeit zehn Jahre alt war. Heute bereut sie das. Wieder ging alles von vorne los.

Mit dem Messer bedroht

Im Mai dieses Jahres dann der Schritt: „Ich bin mit meiner Mutter zur Diakonie gegangen”, erinnert sie sich. „Im Gespräch sagte sie dann, dass wir morgen gehen werden. Ich war total überrascht und durfte zu Hause nichts sagen.” Als der Vater am nächsten Tag zur Arbeit fuhr, nutzten sie die Chance und gingen fort. Für immer. Seitdem lebt Derya mit ihren zwei jüngeren Geschwistern und ihrer Mutter gemeinsam in einem kleinen Zimmer in einer fremden Stadt. Trotzdem ist sie froh, hier zu sein.

„Mir geht es ohne meinen Vater besser, und ich hoffe, dass auch meine Mutter nicht zurückgeht.” Der erste Schritt ist getan. Die kleine Familie hat sich mithilfe der Mitarbeiter des Frauenhauses eine Wohnung gesucht. Noch ein paar Wochen, dann beginnt ein neues Leben.

„Ich möchte auf eigenen Beinen stehen, möchte selbst arbeiten und mir nichts verbieten lassen.” Derya will ihr Abitur machen, und später möchte sie eine eigene Familie haben. Mit einem Mann, der sie glücklich macht.

* Name geändert