Essen. Die Krise hat NRW noch nicht mit voller Wucht erreicht. Das Schlimmste steht noch bevor, meint Guntram Schneider. Der SPD bescheinigt der DGB-Landeschef Nachholbedarf in Sachen Wirtschaftskompetenz, er selbst fordert ein flexibles Renteneintrittsalter und Verlängerung des Arbeitslosengeldes.

Herr Schneider, sollen die Menschen künftig bis 69 arbeiten, wie es die Bundesbank vorschlägt?

Guntram Schneider: Das ist jenseits aller Realität. Wer so einen Vorschlag macht, kennt die Lebenswirklichkeit nicht. Das reale Rentenalter in Nordrhein-Westfalen liegt bei 61. Somit wäre die theoretische Heraufsetzung auf 69 ein weiteres Rentenabbauprogramm. Ich plädiere dafür, das Renteneintrittsalter flexibel zu gestalten.

Warum soll ein Hochschullehrer nicht bis 70 arbeiten?

Schneider: Ein Bauarbeiter muss aber mit großer Wahrscheinlichkeit schon mit 55 oder 56 in Rente gehen. Dabei muss man sich allerdings Gedanken machen, wie man die fälligen Abschläge organisiert. Satirisch kann man zum Bundesbank-Vorschlag sagen: Hebt die Rente auf 84 an. Das ist die durchschnittliche Lebenserwartung, dann haben wir kein Problem mehr mit der Finanzierung.

"Ich bin bei der SPD mit vielem nicht zufrieden"

Sie werden auf jeden Fall noch eine Weile DGB-Landesvorsitzender sein, wollen aber im Herbst gleichzeitig für die SPD in den Bundestag einziehen. Wie wollen Sie als SPD-Politiker noch glaubwürdig einen Gewerkschaftsbund vertreten können, der parteipolitisch neutral sein will?

Schneider: Die Maxime des DGB lautet nicht parteipolitische Neutralität, sondern Unabhängigkeit von den politischen Parteien.

Eben. Diese Unabhängigkeit können Sie jetzt demonstrieren, indem Sie sich kritisch zur SPD äußern.

Schneider: Ich bin bei der SPD mit vielem nicht zufrieden. Sie hat erst viel zu spät die soziale Gerechtigkeit wiederentdeckt und muss dringend mehr Kompetenz in der Wirtschaftspolitik zeigen.

Gleich werden Sie bestimmt über die allgemeine Wirtschaftskrise reden wollen. Die meisten Menschen möchten aber lieber positive Botschaften hören. Können Sie welche bieten?

Schneider: Wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich fröhliche Leute, die shoppen und Kaffee trinken gehen, weil sie sich noch nicht von der Krise betroffen fühlen. Die Stimmung ist besser als die Lage. Unser Problem ist: Das wird sich in wenigen Monaten ändern.

Die Stimmung rasselt so richtig in den Keller?

Schneider: Davon ist auszugehen. Wir rechnen ab Herbst mit 850 000 bis einer Million Arbeitslosen in NRW. Manche Wissenschaftler halten die Prognose noch für zu zurückhaltend. Einige Experten sehen aber schon wieder Licht am Ende des Tunnels. Der beispielsweise vom Arbeitgeberpräsidenten zur Schau getragene Optimismus hat wenig Substanz. Die Schlüsselbranchen in NRW wie Maschinen-, Fahrzeugbau und Chemie haben erhebliche Probleme, die anhalten werden.

"Das Arbeitslosengeld muss verlängert werden"

Was hat die Gewerkschaft außer Jammern zu bieten, wenn es zu größerem Stellenabbau kommt?

Schneider: Konzepte. Die Verlängerung der Kurzarbeit geht auf unsere Initiative zurück. Transfergesellschaften müssen eine neue Dynamik bekommen...

...der Wechsel in eine Qualifizierungsgesellschaft ist doch nur die Verzögerung der Arbeitslosigkeit.

Schneider: Nein, bei der Vermittlung in einen neuen Job sind Transfergesellschaften deutlich erfolgreicher als die Arbeitsagenturen.

Was machen die Bundesagenturen schlechter?

Schneider: Die individuelle Betreuung und das Ausloten von Vermittlungschancen sind nach wie vor unzureichend. Das wird noch schlechter werden, wenn die Zahl der Fälle steigt. Den Beschäftigten der Arbeitsagenturen und Argen fehlt vor lauter Bürokratie die Zeit, sich ausreichend um die Menschen zu kümmern. Da ist ein Berichtswesen aufgebaut worden, das in diesem Ausmaß nicht erforderlich ist. Das muss dringend geändert werden. Außerdem fordert der DGB eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes um mindestens sechs, besser um neun Monate.

Was bringt eine Verlängerung, wenn die Menschen anschließend doch in Hartz IV fallen?

Schneider: Die Menschen entwickeln berechtigterweise Angst vor Hartz IV, weil alle Untersuchungen nachweisen, wie schwer es ist, aus Hartz IV wieder rauszukommen. Deshalb müssen wir den Bezug von Arbeitslosengeld für alle auf mindestens eineinhalb Jahre, für Ältere auf wenigsten zwei Jahre verlängern, um ihnen mehr Zeit zu geben.

"Das Kreditgewerbe muss jetzt mal Gas geben"

Was bedeutet Ihr Schreckenszenario für Opel?

Zur Person

Nach der Volksschule erlernte Guntram Schneider den Beruf des Werkzeugmachers, bevor er sich über Betriebsratsarbeit und Schulungen für eine Karriere bei der Gewerkschaft qualifizierte.

Seit Februar 2006 ist der 58-Jährige Vorsitzender des rund 1,6 Millionen Mitglieder starken NRW-Landesverbands des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Am 27. September kandidiert Schneider in Bielefeld für die SPD für den Bundestag - bei Erfolg, will er Abgeordneter und DBG-Landeschef in Personalunion sein.

Schneider: Ohne Opel würde NRW ein Stück weiter entindustrialisiert. Viele Zulieferer müssten die Segel streichen. Gerade die Finanzkrise zeigt, wie wichtig die industrielle Produktion ist. Deshalb muss Opel gerettet werden. Auch viele kleine und mittelgroße Betriebe bräuchten Hilfe. Selbst manche Sparkassen verweigern bodenständigen Unternehmen eine ausreichende Finanzierung. Das muss aufgebrochen werden. In der Krise muss das Kreditgewerbe jetzt mal richtig Gas geben.

Sparkassen und Banken sollen Kredite ohne ausreichende Sicherheiten vergeben?

Schneider: Kredite werden ja nicht wegen fehlender Sicherheiten verweigert. Die Institute spekulieren mit dem preiswerten Geld der Zentralbank lieber auf den internationalen Rohstoffmärkten. Das ist ein Weiter-so wie vor der Krise mit leicht veränderten Vorzeichen, was ich mit großer Sorge beobachte.

Wenn es zu der von Ihnen beschriebenen Entlassungswelle kommt, werden die Gewerkschaften dann freiwillig auf Lohnerhöhungen verzichten oder sogar Abzüge anbieten?

Schneider: Das werden wir sehen. Die Gewerkschaften sind äußerst flexibel, wenn es um die Sicherung von Arbeitsplätzen geht. Zunächst benötigen wir aber andere weitere Kraftanstrengungen: Das Land muss endlich ein eigenes Investitionsprogramm vorbereiten und sich auf die Finanzierung von Ausbildungsplätzen einstellen, denn bei einem Lehrstellen-Rückgang von zehn Prozent reichen Appelle alleine nicht mehr aus.

Das waren bisher alles keine positiven Botschaften. Wann wird denn die Krise überwunden sein?

Schneider: Das weiß niemand, aber es werden ganz sicher wieder bessere Zeiten kommen.

Ganz bestimmt?

Schneider: Selbstverständlich, das liegt im Wesen des Kapitalismus.