Kairo/Teheran. Der Machtkampf im Iran zwischen dem konservativen Regime und den Reformkräften hat sich erheblich zugespitzt. Bei heftigen Straßenschlachten in Teheran starben nach offiziellen Angaben mindestens zehn Menschen; mehr als 100 wurden verletzt.

Das Staatsfernsehen machte „bewaffnete Terroristen” für die Unruhen verantwortlich. Reformkandidat Mir Hossein Mussawi griff auf seiner Website den geistlichen Führer des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, scharf an. Dem iranischen Volk solle eine Regierung aufgezwungen werden, schrieb er und forderte erneut Neuwahlen. Der Wahlbetrug habe ein „ungeheures Ausmaß” gehabt.

Nach Angaben von Augenzeugen, die auch über den Internetdienst Twitter verbreitet wurden, hatten sich am Samstag mehrere tausend Menschen auf dem Enkelhab-Platz und dem zehn Kilometer entfernten Azadi-Platz versammelt und „Tod dem Diktator” gerufen. Die Polizei ging mit Tränengas, Knüppeln und Wasserwerfern auf die Menge los. Auf einem Video waren brennende Autos zu sehen und Schüsse zu hören.

In der Nähe des Khomeini-Mausoleums im Süden der iranischen Hauptstadt gab es nach Angaben der Polizei einen Selbstmordanschlag. Dabei starben zwei Menschen, acht wurden verletzt.

Die Reformbewegung meldete Demonstrationen auch aus anderen großen iranischen Städten wie Esfahan und Schiras. Teilweise seien die Sicherheitskräfte auch hier brutal gegen die Demonstranten vorgegangen. In der Pilgermetropole Maschad im Nordosten des Landes haben sich nach diesen Angaben auch Geistliche den Protesten angeschlossen.

Obama fordert Ende der Gewalt

In seiner bislang deutlichsten Stellungnahme forderte US-Präsident Barack Obama ein Ende der Gewalt. Die Regierung in Teheran müsse „jegliche Akte der Gewalt und der Ungerechtigkeit gegen das eigene Volk” einstellen. „Die iranische Regierung muss verstehen, dass die ganze Welt sie beobachtet”, erklärte Obama. Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangte, die Stimmen der Präsidentenwahl müssten neu ausgezählt werden. „Deutschland steht auf Seiten der Menschen im Iran, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit ausüben wollen”, hieß es in ihrer Erklärung.

Vertreter des Regimes reagieren immer gereizter auf die internationale Kritik. Präsident Mahmud Ahmadinedschad forderte die USA und Großbritannien auf, sich nicht länger in die inneren Angelegenheiten seines Landes einzumischen. Mit „übereilten Äußerungen” machten sie sich nicht zu Freunden der iranischen Nation, erklärte er auf seiner Website. Parlamentssprecher Ali Laridschani bezeichnete Stellungnahmen von Frankreich, England und Deutschland als „Schande”.

In Europa, den USA und Australien demonstrierten am Wochenende zehntausende Exil-Iraner gegen Ahmadinedschad.

Der Kampf um das Erbe von Khomeini

Der eine mobilisiert die Massen, der andere zieht hinter den Kulissen die Strippen. Mir Hossein Mussawi und Hashemi Rafsandschani gehörten bei der Islamischen Revolution zu den Männern der ersten Stunde. Beide schälen sich heraus als die zentralen Gegenspieler von Ajatollah Ali Chamenei, die dessen Macht tatsächlich gefährlich werden können. Mussawi hat in der letzten Woche in Teheran an einem Tag drei Millionen Menschen auf die Straße gebracht, die „Tod dem Diktator” skandierten und Chamenei meinten.

Rafsandschani ist Vorsitzender des 88-köpfigen Expertenrates, der den Obersten Religionsführer aus dem Amt jagen kann. Beide fehlten beim Freitagsgebet in der Teheraner Universität.

Und an beide adressierte Chamenei in seiner 90-minütigen Kampfpredigt ungeschminkte Warnungen. Mussawi drohte er mit Verhaftung, falls seine Anhänger weiter gegen das „glorreiche” Wahlergebnis von Präsident Mahmud Ahmadinedschad protestieren. Rafsandschani ließ er öffentlich wissen, er habe mit ihm „in vielen Punkten” Meinungsunterschiede. Schließlich hatte Chameneis Zögling Ahmadinedschad im Wahlkampf Rafsandschani und seine Familie als korrupt bezeichnet. Der Angegriffene forderte in einem Brief an Chamenei vergeblich eine öffentliche Richtigstellung. Niemand habe ihn der finanziellen Korruption bezichtigt, säuselte jetzt der Oberste Religionsführer, um dann unter Hochrufen des handverlesenen Publikums hinzuzufügen, „doch die Standpunkte des Präsidenten stehen mir näher”.

Seitdem sind die Fronten klar und der Machtkampf in Teheran ist so auf die Spitze getrieben, wie noch nie zuvor in der 30-jährigen Geschichte der Islamischen Republik. Noch nie war die staatstragende Elite so tief gespalten. Noch nie sind die Erben Khomeinis so erbittert aufeinander losgegangen.

Denn spätestens seit letzten Freitag geht es um den ideologischen Kern der iranischen Theokratie: hat der Oberste Religionsführer in allen wichtigen Fragen das letzte Wort oder nicht. Chamenei erklärte in seiner Rede an die Nation das Thema Präsidentschaftswahl für definitiv beendet. Mussawi beharrte in seiner Internetantwort auf Neuwahlen und Rafsandschani fuhr offenbar nach Qom, um die Haltung der mächtigen Klerikerelite auszuloten. Seine Töchter derweil feuerten auf den Straßen die Demonstranten der Reformer an.

Innerhalb von Wochen verwandelte die „grüne Welle” Mir Hossein Mussawi von einem farblosen Systeminsider zu einem politischen Idol der iranischen Jugend. Praktisch über Nacht nach der Wahl sah sich der ehemalige Hardliner an die Spitze einer Generation gespült, die Khomeini nur noch von Fotos kennt und die im Cyberspace über Facebook, Twitter und Mails ihren ganzen Frust über das gegängelte Leben in ihrer Heimat hinausposaunt. Die Erwartungen und Hoffnungen, die Mussawi auf sich zieht, sind so breit und divers wie seine Anhängerschaft - und sie gehen längst über einen Wechsel im Präsidentenamt hinaus.

„Wir sind nicht gegen das islamische System und seine Gesetze. Wir sind nur gegen Lügen und Abweichungen, und wir wollen das System reformieren”, beschwor der Reformkandidat seine Anhänger am Samstag in einer Internetbotschaft - als ließe sich der demokratische Geist dadurch wieder in die Flasche zurückdrängen. Sicher ist Mussawi kein liberaler Politiker im westlichen Sinne. Viele fragen sich auch, wie weit er gewillt ist, für die demokratischen Hoffnungen seiner Anhänger zu gehen. Seine Mitarbeiter zumindest ließen am Wochenende durchsickern, Mussawi sei bereit, sein Leben zu opfern. Sollte er verhaftet werden, rufe er die Bevölkerung zum Generalstreik auf.