Berlin. Wie Tufan Avci (17) aus Duisburg im Bundeskanzleramt gestern ein anderer Staatsbürger wurde. Leicht war es nicht - den Part sparte die Kanzlerin bei ihrer feierlichen Zeremonie zur Einbürgerung allerdings aus.

Im Bundeskanzleramt hat sich die Welt versammelt. Da, wo sonst Präsidenten nach Staatsbesuchen der Hauptstadtpresse Auskunft geben, warten gestern Mittag 16 handverlesene Frauen und Männer aus Polen, Finnland, Uruguay, Marokko, Italien, Indien, Brasilien und der Türkei darauf, dass sich in ihrem Leben in wenigen Augenblicken etwas Einschneidendes verändern wird. Allen sieht man das nicht an. Die kleine Shaktisena Reddy Kethiri aus Indien zum Beispiel schläft selig an der Schulter ihres Vaters, nachdem das von jungen Kammermusikern lebhaft verabreichte Divertimento in D-Dur von Mozart und die offiziellen Reden von Regierungschefin Angela Merkel und anderen verklungen sind.

Als Türke kommen, als Deutsche gehen

Tufan Avci, 17 Jahre alt, Schwarzgürtel-Träger in Taekwando, sprachbegabter Schüler des bilingualen Mannesmann-Gymnasiums im Duisburger Stadtteil Huckingen, dagegen ist hellwach. Als Türke ist er ins Zentrum der Macht gekommen. Als Deutscher wird er wieder herausgehen. "Ich erkläre feierlich, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte."

Es hat beinahe etwas von einem Vaterunser in der Kirche, als Avci und die anderen Neubürger, darunter Sema Kapcak und Violetta Nikolajewna Supper, ebenfalls aus Duisburg, im Chor das ihnen von Staatsministerin Maria Böhmer (CDU) freundlich abverlangte Bekenntnis nachsprechen und vor den Linsen vieler Fernsehkameras und Fotoapparate ein Lied singen, das Lied der Deutschen. "Ich hatte ein bisschen Gänsehaut" wird Tufan später den vielen Reportern in die Blöcke diktieren, die zu dieser Premiere gekommen waren, "aber jetzt bin ich nur noch stolz."

Sinkende Zahlen

Sevket Avci, sein Vater, ist noch drei Pfund stolzer und legt im Gespräch mit der WAZ erst einmal Wert auf die Feststellung, seinen jüngsten Sohn, der Älteste studiert bereits als Deutscher in der Türkei Medizin, "in keiner Weise" beeinflusst zu haben. Der 44-Jährige, der Anfang der 80er Jahre von der türkischen Schwarzmeer-Küste ins Ruhrgebiet kam, ist nicht nur Unternehmer mit 400 Angestellten. Sondern auch Vorsitzender des städtischen Beirats für Zuwanderung und Integration in Duisburg. Da bringt es schon der Alltag mit sich, dass man sich den Kopf darüber zerbricht, warum viele Fachleute in diesem Jahr mit der niedrigsten Zahl von Neubürgern seit über zehn Jahren rechnen - bundesweit unter 100 000. 1995, zum Vergleich, da waren es noch weit über 300 000.

Am Sprachtest allein, der seit 2008 gilt, kann es nicht liegen, sagt Avci, "auch wenn sich vor allem viele Türken vorher darüber lange den Kopf zerbrechen." Die Durchfaller-Quote liegt nach Auskunft des Nürnberger Bundesamtes für Migration bei `maximal drei Prozent". Ausschlaggebend findet Vater Avci das, was seinem Sohn offensichtlich keine großen Probleme bereitet hat: die langwierige Prozedur, bis man als Ausländer heutzutage den deutschen Pass bekommt. "Mindestens sechs Monate, sehr viel Papierkram, etliche Befragungen - das dauert einfach unnötig lange", sagt der lokale Integrationsbeschleuniger und weiß die Kollegin auf Bundesebene ein bisschen an seiner Seite. Maria Böhmer, im Kabinett Merkel stets lächelnd fürs gesellschaftliche Miteinander zuständig, hat festgestellt, dass den Einbürgerungsbehörden bundesweit ein wenig "mehr Servicecharakter" wohl ganz gut täte.

Deutsch-Klausur am Nachmittag

Angela Merkel spart dieses Kapitel in ihrer Rede erwartungsgemäß aus. Nichts soll den feierlich-würdigen Rahmen dieser Premiere stören, die die Kanzlerin als "Zeichen der Ermutigung" an andere in Deutschland lebende Ausländer verstanden wissen will, es Tufan Avci und den anderen gleich zu tun. Warum? "Weil es unser Land immer bereichert hat", sagt Merkel, `wenn wir Zuwanderung richtig gemacht haben."

Am Nachmittag fährt Tufan Avci mit seinem Vater wieder zurück ins Ruhrgebiet. Heute ist Deutsch-Klausur in der 11. Klasse. "Leonce und Lena" von Georg Büchner, ein Drama, muss analysiert werden, sagt Tufan und lacht versonnen. Eine Bemerkung der Kanzlerin geht ihm nicht aus dem Kopf. Als die Hugenotten nach Berlin gekommen seien, erzählt die Hausherrin über eine andere Epoche der Zuwanderung, brachten sie aus Frankreich edle Seide dahin, wo es lange Zeit nur kratziges Leinen gab. Tufan Avci will später einmal Umwelt-Ingenieur werden. Oder Mode-Designer. Kann sein, dass seine Entscheidung an dem Tag gefallen ist, als er Deutscher wurde.

Hintergrund-Info:

Anspruch auf Einbürgerung hat, wer folgende Voraussetzungen erfüllt und eine Gebühr von 255 Euro zahlen kann: rechtmäßiger Aufenthalt von acht Jahren, ausreichende Deutschkenntnisse, keine Verurteilungen wegen Straftaten, ein gesicherter Lebensunterhalt und das Bekenntnis zur Verfassungsordnung Deutschlands. Eine doppelte Staatsbürgerschaft wird in der Regel nicht geduldet. Seit September 2008 müssen Einbürgerungswillige ihre `Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland" belegen. Geprüft wird dies in einem Test aus 33 Multiple-Choice-Fragen. Wer binnen 60 Minuten davon 17 richtig beantwortet, hat bestanden. Die Fragen werden aus einem öffentlichen Katalog von 300 bundesweiten und zehn länderspezifischen Fragen gezogen